Ein Pflästerli für den Notfall - demenzjournal.com

Madame Malevizia

Ein Pflästerli für den Notfall

Weil die ärztlichen Notfalldienste vielerorts nicht mehr funktionieren, gibts mehr Andrang auf den Notfallstationen der Spitäler. Bild Martin Mühlegg

Wer künftig in Schweizer Spitälern den Notfall aufsucht, muss 50 Franken bezahlen – sofern er nicht stationär behandelt werden muss. Für die Pflegehexe ist diese Regel ein Sinnbild für Pseudo-Lösungen in der Gesundheitspolitik.

Meine Lieben

Dass in unserem Gesundheitswesen einiges im Argen liegt, kann niemand bestreiten. Die hohen Kosten sind eines der Probleme. Und immer, wenn es ums Geld geht, wird auch die Politik aktiv. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, es läge daran, dass es auch um das Portemonnaie der Politikerinnen und Politiker geht.

Aber ich bin ja nicht böse, und meine Zunge ist immer ganz zahm. Um die Motive, weshalb sich die Politik für das Gesundheitswesen interessiert, geht es mir auch nicht. Denn das ist mir ziemlich gleichgültig.

Hauptsache, die Politik kümmert sich endlich darum.

Mir geht es um das wie. Und dort gibt es leider sehr viel Luft nach oben. Seit ich mich mit Gesundheitspolitik beschäftige, beobachte ich, dass vor allem eines betrieben wird: Ich nenne es «Pflästerlipolitik». Diese Strategie sieht wie folgt aus:

  1. Man (und auch frau) schaue, wo im Gesundheitswesen viel Geld benötigt wird. Nur so an der Oberfläche, sonst könnte es sein, dass man einem Lobbykollegen auf die Füsse tritt.
  2. Man pflücke einen solchen Bereich heraus, löse ihn von allem, was noch dran hängt, denn sonst wird es kompliziert.
  3. Man wählt die auf den ersten Blick einfachste Lösung und rühmt sich dessen, etwas getan zu haben, um die Gesundheitskosten zu senken. Die Veränderung und was damit im Gesamten bewirkt wird, ist zwar minim und zieht bestimmt irgendwie Konsequenzen nach sich (meist ethische), für wirkliche Veränderungen fehlt jedoch der Mut.
Pflegehexe Madame Malevizia.Bild Eve Kohler

Das jüngste Beispiel dieser Politik hat der Schweizer Nationalrat geliefert. Es wurde festgestellt, dass die Spitalnotfälle zu viele so genannte Bagatellen behandeln müssen. Dies ist tatsächlich ein Kostentreiber unseres Gesundheitswesens.

Die Lösung: Eine Notfallgebühr, die vor der Behandlung bezahlt werden muss und nur zurückerstattet wird, wenn eine stationäre Aufnahme erfolgt. Kurzsichtiger geht es schon fast nicht mehr. Zum einen ist nicht jede Behandlung, die nicht in einer stationären Aufnahme mündet, ist eine Bagatelle. Zum anderen sind wir hier schon wieder mitten in einer ethischen Debatte.

Was ist mit jenen Menschen, welche die Gebühr nicht bezahlen können? Werden die dann, wie es in anderen Ländern bereits üblich ist, abgewiesen und ihrem Schicksal überlassen? Und dann stellt sich mir noch eine ganz praktische Frage: Wer zieht diese Gebühr ein? Das ohnehin schon überlastete Pflegepersonal?

Auch hier zeigt sich wieder einmal deutlich, dass nicht ausreichend nach den Ursachen für dieses Problem gesucht wurde. Den Menschen wird zuerst einmal Boshaftigkeit oder zumindest Faulheit unterstellt. Die Vorstellung ist: Es wird wegen jedem Bobo in den Notfall gerannt.

Ich denke jedoch, dass zwei Gründe gibt, die Menschen in den Notfall treibt: Angst und Unterversorgung. Mit Unterversorgung meine ich, dass einem manchmal einfach keine Wahl bleibt, als mit seiner Bagatelle in den Notfall zu gehen.

Wenn Sie sich nachts um zehn Uhr mit einem Küchenmesser dermassen in die Hand schneiden, dass genäht werden muss, können Sie nicht bis am nächsten Morgen neun Uhr warten, bis Ihr Hausarzt wieder erreichbar ist.

Ein ärztlicher Notfalldienst ist vielerorts nicht mehr existent.

Der Apotheker oder die Apothekerin ist des Nähens nicht mächtig. Die (von mir übrigens hochgeschätzten und favorisierten) City-Notfälle sind um diese Zeit nicht mehr geöffnet. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als mit ihrer blutenden Hand, die zweifellos eine Bagatelle ist, in den Notfall zu gehen.

Und genau da, sehe ich den ersten richtigen Lösungsansatz. Was wäre, wenn die Notfälle zu Zentren ausgebaut würden? Wenn es ein «Hausarztzentrum» und eine Notfallstation am selben Ort gäbe? Wenn diese eine gemeinsame Pforte hätten, wo Pflegeexpertinnen und -experten die Erstuntersuchung machen würden.

Hier gehts zum Interview mit der Pflegehexe

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Sie würden das, was sie selbst erledigen können, erledigen und dann die Menschen an den passenden Ort schicken. Ja, diese Lösung wäre grösser, weitreichender und bräuchte Gesetzesanpassungen. Aber wäre sie letztlich nicht doch effizienter?

Kommen wir zum etwas komplexeren Thema, nämlich der Angst, welche die Menschen in die Notfälle treibt. Immer häufiger fällt mir auf, wie viele Menschen, den Bezug, den Kontakt und das Wissen zu ihrem Körper verloren haben.

Das zeigt sich darin, dass die wenigsten Menschen (wenn sie denn nicht im Gesundheitswesen tätig sind) sagen können, wo sich ihr Magen befindet (nein, er ist nicht im Unterbauch). Auch die Lage der Nieren oder des Darms ist den meisten nicht wirklich geläufig.

Viele wissen zwar, dass sich im Kopf das Gehirn befindet (einige benutzen es sogar), aber den wenigsten ist klar, wie dieses denn auch funktioniert und wie es mit dem Bewegungsapparat zusammenhängt. Wie soll ein solcher Mensch nun abschätzen können, ob es schlimm ist, wenn es im Unterbauch schmerzt?

Aus profanem Bauchweh kann nach einer Internetrecherche ein durchgebrochener Darmkrebs werden.Bild Screenshot

Ganz hilflos sind diese Menschen ja nicht, und so tun sie so ziemlich das Dümmste, was sie in dieser Situation tun könnten: Sie fragen Google. Und Google spuckt beim Stichwort «Bauchschmerzen» so ziemlich jede Schrecklichkeit auf, die sein könnte. Das beginnt bei der Blinddarmentzündung und hört beim durchgebrochenen Darmkrebs auf.

Sprich: der zuvor verunsicherte Mensch ist nun geradezu in Panik und glaubt, in Lebensgefahr zu sein. Und eben weil er keinen Bezug mehr zu sich und seinem Körper hat, ist ihm auch nicht aufgefallen, dass er seit drei Tagen keinen Stuhlgang mehr hatte und seine Beschwerden schlicht von einer Verstopfung herrühren. Und so landet auch diese Bagatelle gepaart mit Todesangst im Notfall. An diesem Szenario wird die Notfallgebühr nichts ändern.

Ein wirklicher Lösungsansatz wäre es, darüber nachzudenken, wie die Menschen, wieder einen Bezug zu ihrem Körper bekommen können.

Und wie sie soweit gebracht werden können, nicht Google, sondern eine Fachperson zu fragen. Dazu muss aber auch eine solche verfügbar sein. Am besten eine, die man kennt.

Deshalb fände ich es sinnvoll, das Konzept der «Gemeindeschwester» wieder einzuführen. Die vielleicht auch den Auftrag hätte, Aufklärung zum menschlichen Körper, zu verschiedenen Krankheitsbildern und deren (Selbst-)Behandlung zu betreiben?

Hier schreibt die Pflegehexe über Visionen in der Gesundheitspolitik:

Madame Malevizia

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Ich bin sicher, viele dieser verängstigten Menschen mit «Bagatellen» könnten vom Notfall ferngehalten werden. Auch das wäre ein grosser Entscheid und würde mehrere Gesetzesanpassungen benötigen.

Namentlich die Eigenständigkeit der Pflegenden, die Teil der Pflegeinitiative und des indirekten Gegenvorschlags ist. Ich bin aber ziemlich übererzeugt, dass der Nutzen dieses Ansatzes um ein Vielfaches grösser wäre als jener dieser Gebühr.
 
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass die Politikerinnen und Politiker dieses Landes mutiger wären – und sich für wirkliche Lösungen im Gesundheitswesen interessieren, einsetzen und hingeben würden.

Eure Madame Malevizia