«Oft genügen einfache Mittel» - demenzjournal.com

Begleitung

«Oft genügen einfache Mittel»

Eine Sitzbank und der Austausch mit den Nachbarn kann schon viel bewirken. Bild PD

Zehn Gemeinden, Regionen und Kantone gingen im Programm Socius neue Wege, um auf den demografischen Wandel zu reagieren. Programmleiterin Christiana Brenk zieht Bilanz und erklärt, was Sitzbänke, Anlaufstellen und Treffpunkte mit guter Alterspolitik zu tun haben.

alzheimer.ch: Christiana Brenk, sind Sie mit den Ergebnissen des Programms Socius zufrieden?

Christiana Brenk: Ja, sehr. Die beteiligten Projekte konnten sich ja nicht auf bewährte Muster abstützen. Die zehn Programmteilnehmenden beschritten neue Wege, um etwas zu bewegen. Sie probierten alterspolitisch einiges aus, ohne auf Vorgaben von oben zu warten. Gemeinsam haben wir im Programm viel erreicht und viel herausgefunden.

Gibt es so etwas wie eine zentrale Erkenntnis?

Sogar mehrere. Es braucht den politischen Willen, den demografischen Wandel zu gestalten. Möglichst viele Akteure der Altersarbeit sollten von Anfang an auf die Reise mitgenommen werden. Eine Projektleitung mit Know-how und Engagement, die die Beteiligten auf eine gute Art zu vernetzen weiss, ist förderlich.

Ganz wichtig ist, das Richtige zu tun. Das bedeutet, die alten Menschen zu fragen, was sie brauchen. Denn sie sind die Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt. Wenn es um Altersversorgung geht, thematisieren Politik und Medien vor allem die Pflege.

Das Programm Socius richtet den Fokus bewusst auf Alltagshilfe. Warum?

Weil unser System dort einen blinden Fleck hat. Klar gibt es alte Menschen, die auf Pflege angewiesen sind und im Heim leben. Doch bei den meisten, auch jenen über 80, ist das nicht der Fall. Viele brauchen einfach Hilfe und Unterstützung im Alltag.

Ambulant vor stationär ist als Grundsatz zwar politisch erwünscht, mit der Spitex allein ist dem allerdings nicht Genüge getan.

Die Spitex ist zweifellos wichtig, doch es braucht noch mehr. Es gilt, die Alltagsunterstützung im System abzubilden und Strukturen dafür zu schaffen.

Früher deckten die Familien vieles ab, vor allem die Töchter. Das hat sich verändert. Angehörige wohnen weiter weg, Frauen sind erwerbstätig und nicht mehr einfach verfügbar.

Sie sprechen im Programm Socius von «bedürfnisorientierten Unterstützungssystemen» für zu Hause lebende ältere Menschen. Ein Wortungetüm!

Ja, wirklich (lacht). Wir haben mit unserer Begleitgruppe der Expertinnen und Experten lange an einem passenden Begriff herumstudiert. Wir finden, dieser trifft es am besten.

Socius-Leiterin Christiana Brenk.Bild PD

Warum nicht «integrierte Versorgung», «Caring Community» oder Betreuung im Alter – Begriffe, wie sie in diesem Zusammenhang auch zu hören sind?

Integrierte Versorgung kommt aus dem Gesundheitswesen und zielt auf Therapie und Pflege. Uns ist es aber wichtig, das Soziale ebenfalls zu berücksichtigen. Wer will schon im Alter «versorgt» werden? Die sorgende Gemeinschaft wiederum könnte so missverstanden werden, dass es die Zivilgesellschaft richten soll.

Freiwilligenarbeit ist äusserst wertvoll, und die Bereitschaft dazu ist erfreulicherweise vorhanden, wie die Erfahrungen aus dem Programm Socius zeigen. Die öffentliche Hand hat jedoch eine Verantwortung. Sie muss nicht alles selbst machen.

Wir sehen sie in der Rolle der Dirigentin, die schaut, dass professionelle und ehrenamtliche Anbieter im Altersbereich gut zusammenspielen. Dazu braucht sie überhaupt einmal den Überblick, was es alles an Unterstützungsangeboten gibt. Dieser fehlt an den meisten Orten, zumal immer mehr Anbieter in den Markt eintreten.

Bedürfnisorientierte Unterstützungssysteme also. Was heisst das ganz konkret?

Ältere Menschen, die zuhause leben, sollen sehr einfach Unterstützung finden, wenn sie welche brauchen. Und sie sollen genau die Hilfe erhalten, die es ihnen ermöglicht, weiterhin im Alltag zurechtzukommen. Es geht um ein Sorgesystem, das flexibel bleibt. Denn das Altern verläuft nicht linear. Jemand braucht mal mehr Hilfe, dann wieder weniger.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Warum ist es so wichtig und lohnenswert, zuhause lebende ältere Menschen zu unterstützen?

Weil es das ist, was die grosse Mehrheit wünscht: zuhause alt zu werden. Oft genügen einfache Mittel, um den Alltag weiterhin zu ermöglichen. Ein Beispiel: Wenn eine ältere Person nicht mehr selber einkaufen gehen kann, braucht es jemanden, die oder der das für sie erledigt. Das lässt sich organisieren.

Es geht aber auch um Lebensqualität im Alter und um ein gutes Altern. Um Begegnungsmöglichkeiten, soziale Netzwerke. Dass ich als alter Mensch nach draussen gehen und mich kurz setzen kann, wenn ich müde bin.

Ist es auch das Ziel, den erwarteten Anstieg der Pflegekosten zu bremsen?

Das steht für das Programm Socius nicht im Vordergrund, ist für die Gemeinden und Kantone aber interessant. Die Zahl der Älteren wird in den kommenden Jahren steigen, das ist bekannt. Der Bedarf an Pflegebetten wächst, wenn keine Massnahmen ergriffen werden, um das Wohnen zuhause zu fördern.Es braucht gar nicht so viel, um das zu ermöglichen.

Zum Beispiel Informationsstellen, Nachbarschaftshilfe, Spaziergruppen, Sitzbänke und Handläufe sowie einiges mehr, was in den Socius-Projekten entstanden ist.

Genau. Der rote Faden dabei ist, auf die Älteren zu hören. Damit wird die Sitzbank nicht irgendwo aufgestellt, sondern genau dort, wo sie den alten Menschen dient.

In der Politik hat man oft Angst, mit dem partizipativen Ansatz übertriebene Erwartungen zu wecken.

Das ist nicht der Fall, wie die Socius-Projekte zeigen. Die älteren Menschen sind sehr vernünftig und um das Gemeinwohl besorgt. Was die Socius-Projekte leisteten, hat viel mit einer respektvollen Haltung gegenüber den alten Menschen zu tun.

Was können Politikerinnen und Politiker sonst noch vom Programm Socius lernen?

Dass es im Bereich Alltagshilfe und Unterstützung für die ältere Bevölkerung einiges zu tun gibt. Nicht nur von den Strukturen her, auch bei den Finanzierungsströmen. Das Schweizer System trennt starr zwischen Gesundheits- und Sozialwesen, das ist ein Fehlanreiz. Ein weiterer Punkt ist die zuständige Ebene.

Für ein gutes Angebot bei der Demenzbetreuung, bei Palliative Care oder der 24-Stunden-Spitex braucht es eine gewisse Grösse und regionale Zusammenarbeit. Selbsthilfe, Integration und Treffpunkte dagegen werden mit Vorteil kleinräumig und wohnortnah im Quartier organisiert. Quartier und Region sind in der Schweiz keine institutionalisierten Ebenen. Alterspolitisch erweisen sie sich als bedeutend


Christiana Brenk leitet seit 2014 das Programm Socius der Age-Stiftung. Die Zürcherin ist Betriebswirtschafterin (FH) und Organisationsentwicklerin (CAS-IAP). Als selbständige Fachfrau berät und begleitet sie Gemeinden und Organisationen in Alters- und Gesundheitsfragen.