«Im Winter lasse ich meinen Kühlschrank ausgeschaltet» - demenzjournal.com

Altersarmut

«Im Winter lasse ich meinen Kühlschrank ausgeschaltet»

Wer im Monat nur 1000 Euro zum Leben hat, muss jeden Cent umdrehen. PD

Hamburg ist eine der reichsten Städte Deutschlands. Trotzdem sind auch hier viele Menschen von Altersarmut betroffen. Ihnen reicht spätestens zum Monatsende hin das Geld nicht mehr fürs Essen. Einblicke in eine Welt, die uns normalerweise verschlossen bleibt.

Auf den Tischen stehen frische Blumen, die Wände des grosszügigen Essraums sind mit Holz ausgekleidet. Frühstückszeit. An den Tischen sitzen Obdachlose und andere bedürftige Menschen, die zwar ein Zuhause, aber nur eine sehr kleine Rente haben.

Manche, die hier herkommen, sitzen allein, ihr Blick geht ins Leere. Andere rücken eng zusammen und unterhalten sich lebhaft, sie kennen sich schon länger. Ehrenamtliche bringen Tabletts mit belegten Brötchen, schenken Kaffee und Tee aus. Wer hierher kommt, steht nicht Schlange, sondern wartet an seinem Platz.

Es ist genug für alle da, keiner muss grössere Mengen auf seinem Teller horten.

«Die Leute sollen sich hier als Gäste fühlen. Sie wählen einen Tisch und werden bedient, wie im Restaurant. Wir haben viele Stammgäste, die sich verabreden und zum Klönen treffen», sagt Christiane Hartkopf, die Leiterin von Alimaus – so heisst die Tagesstätte im Hamburger Kiezviertel St. Pauli.

Die Einrichtung wird von Spenden und Ehrenamtlichen getragen, viele Jahre arbeiteten hier Ordensschwestern zur Unterstützung. Neben der Essenausgabe gibt es noch eine Kleiderkammer, medizinische Versorgung und einen Seelsorger, bei dem jeder sein Herz ausschütten kann.

Christiane Hartkopf leitet die Alimaus in St. Pauli.Bild Franziska Wolffheim

Rund 300 Menschen werden täglich in der Alimaus zweimal am Tag verköstigt, gegen Monatsende sind es mehr. «Hier treffen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten aufeinander, manche von ihnen sind suchtkrank. Nicht immer geht das Essen dann konfliktfrei über die Bühne», sagt Christiane Hartkopf.

«Einsamkeit ist neben der Essensversorgung die grösste Motivation herzukommen.»

Christiane Hartkopf

Auch Marlies Bauss ist an diesem Morgen zum Frühstück gekommen. Sie hat ein offenes Gesicht, um ihren Hals hängt eine kleine abgewetzte Handtasche, die sie beim Essen nicht abnimmt. «Das ist sicherer, so kommt nichts weg», sagt sie. Die 68-Jährige wohnt in Winsen, einer kleinen Stadt in Niedersachsen, nicht weit von Hamburg. Mit ihrem Monatsticket kann sie so oft in die Hansestadt kommen, wie sie möchte.

In Winsen hat sie Bekannte, sagt, sie, aber in der Alimaus «einen guten Freundeskreis». Sie ist froh, dass es diesen Ort gibt, wo sie sich aufgehoben fühlt. Ab und zu geht sie zum Mittagessen ins CaFée mit Herz, eine andere Einrichtung für Obdachlose und Bedürftige.

In Hamburg gibt es zahlreiche solcher Orte. Ausserdem mobile Ausgabestellen für Lebensmittel, die von Hilfsorganisationen betrieben werden. Hier kann man sich in die Schlange stellen und kostenlos Lebensmittel bekommen. Der Andrang ist gross.

Marliess Bauss isst regelmässig in der Alimaus.Bild Franziska Wolffheim

Für Marlies Bauss trifft zu, was auch «prekärer Ruhestand» genannt wird: Sie muss mit etwas über 1000 Euro Rente im Monat auskommen.

Das bedeutet konkret: Fahrkarte 103 Euro. Strom- und Heizkosten 100 Euro. Krankenkasse 180 Euro; dazu die Kosten fürs Wohnen. Fürs Essen braucht sie nicht mehr als 50 Euro, meint sie, da sie regelmässig in der Alimaus oder im CaFée mit Herz isst.

Im Winter lässt sie den Kühlschrank ausgeschaltet, das spart Strom. Den Fernseher hat sie abgeschafft. Ihre Klamotten besorgt sie sich in der Kleiderkammer der Alimaus.

Manchmal sammelt sie Sachen vom Flohmarkt auf, die am Ende liegen bleiben und die keiner haben will: Bilderrahmen, Kugelschreiber, altes Geschirr. «Ich mache die Sachen zu Hause sauber und versuche zu reparieren, was geht.»

Früher hat die gebürtige Norddeutsche einmal gut gelebt. Das war während ihrer fast 25-jährigen Ehe. Ihr Mann hat als EDV-Fachkraft gut verdient, sie arbeitete einige Jahre als Schwimmlehrerin, was ihr Spass machte. Kurz vor ihrer Silberhochzeit erklärte ihr Mann, er wolle sich scheiden lassen.

Einige Jahre nach der Scheidung wurde Marlies Bauss krank, ein gutartiger Hirntumor und Brustkrebs. Kurz vor ihrem 60. Geburtstag wurde sie Frührentnerin, sie konnte nicht mehr weiterarbeiten. Von ihren beiden Kindern bekommt sie keine finanzielle Unterstützung. «Meine Tochter hat mir angeboten, mir zu helfen, aber ich möchte das nicht».

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Marlies Bauss erzählt ausführlich, sie hat keine Hemmungen, von sich zu sprechen. Wenn sie von den Gratis-Mahlzeiten erzählt, die sie in Anspruch nimmt, klingt das fast selbstverständlich – es ist nun mal so, und sie ist dankbar, dass es diese Angebote gibt.

«Ich kenne Armut von Kindheit an. Wir waren fünf Kinder, mein Vater war Schmied. Wir mussten immer sehr sparen. Deshalb fällt es mir heute auch nicht so schwer.»

Herbert Wolf ist Seelsorger für Obdachlose.Bild Alimaus

Nicht alle gehen so offen mit ihrer Geschichte um wie Marlies Bauss. Einige schütteln nur den Kopf, wenn man sie danach fragt. Ein wichtiger Grund ist Scham.

Das weiss Herbert Wolf, Seelsorger für Obdachlose, der in der Alimaus arbeitet, am besten. «Viele, die bei uns essen, kommen aus anderen Stadtteilen. Man möchte hier nicht von seinen Nachbarn gesehen werden.»

Aber das Gespräch mit dem Seelsorger tut ihnen gut: «Einige erzählen mir aus ihrem Leben. Dann erfahre ich zum Beispiel, dass jemand gerade einen Brief von einem seiner Kinder bekommen hat und sich darüber freut.

Ein anderer erzählt mir von seinem Rentenbescheid: 20,45 Euro im Monat – das hat den Mann total schockiert. Ich musste ihn erst mal darüber aufklären, dass keiner mit 20,45 Euro im Monat auskommen muss.»

Wenn die Rente die Kosten des täglichen Lebens nicht abdeckt, wird sie durch eine Grundsicherung aufgestockt. Dass viele Menschen über ihre Ansprüche nicht Bescheid wissen, beunruhigt den Seelsorger immer wieder.

In Deutschland stocken derzeit 4,6 Prozent der Menschen ihre Rente beim Eintritt in den Ruhestand auf. Einige, die die Grundsicherung dringend benötigen, verzichten allerdings aus Scham auf das, was ihnen von staatlicher Seite zusteht. Scham, ein «Sozialfal» zu sein. Scham, nicht ausreichend vorgesorgt zu haben. Manche arbeiten über das Rentenalter hinaus, nicht selten in mehreren Jobs.

Quelle Youtube

Die Altersarmut in Deutschland wächst. In Hamburg, einer der reichsten Städte Deutschlands, ist in den letzten fünf Jahren der Anteil der Menschen, die zusätzlich zur Rente eine staatliche Grundsicherung in Anspruch nehmen, um 30 Prozent gestiegen. Warum ist das so?

«Das ist kein Hamburger Phänomen», sagt Oliver Klessmann von der Sozialbehörde der Hansestadt. «Wir erleben derzeit die Auswirkungen der geburtenstarken Jahrgänge in Kombination mit den damals üblichen Erwerbsbiografien.

Insbesondere Frauen haben in den 1950er bis 1970er Jahren lange Familienzeiten gehabt, in denen sie nicht gearbeitet und deshalb keine Rentenansprüche erworben haben. Ausserdem gab es viele Menschen, vor allem Frauen, die in Helfer- und Assistentenberufen mit geringen Einkommen gearbeitet haben. Das wirkt sich in den individuellen Renten aus.» Besonders wichtig in Grossstädten wie Hamburg ist der Wohnungsmarkt.

Die Mieten steigen rasant und sind für ältere Menschen mit niedrigen Renten ein grosses Handicap.

Deshalb ist eine soziale Wohnraumpolitik so wichtig für die Armutsprävention. «Der Hamburger Senat hat das im Bundesvergleich ambitionierteste Wohnungsbauprogramm in Deutschland aufgelegt», sagt Oliver Klessmann.

«In den zurückliegenden Jahren sind jeweils mehr als 10’000 neue Wohnungen pro Jahr genehmigt worden; ein Drittel davon geförderte Mietwohnungen für Haushalte mit kleineren und mittleren Einkommen.»

Doch trotz der Unterstützungsleistungen der Behörde – etwa ermässigte Fahrkarten und Wohngeld-Zuschüsse – ist das Leben gerade in den teuren Grossstädten für arme Menschen ein täglicher Kraftakt. Selbst wenn die Miete in einem wenig angesagten Stadtteil nur 283 Euro inklusive Heizung beträgt.

So viel zahlt Peter Sulga monatlich für seine Einzimmerwohnung in Jenfeld, einem der ärmeren Stadtteile im Osten Hamburgs. Die meisten Nachbarn in seinem Haus kennt er nicht. Eine seiner beiden Töchter ist gestorben, die andere lebt in Schottland, er sieht sie selten. Zu seiner Ex-Frau hat er keinen Kontakt mehr.

Peter Sulga arbeitete bei der Lufthansa und lebt heute von weniger als 900 Euro.Bild Franziska Wolffheim

Sulga erzählt, dass er viel liest, Nachrichten hört. Mit der aktuellen Tagespolitik kennt er sich aus. Zu Hause kocht er häufig für mehrere Tage. Morgens kommt er regelmässig in die Alimaus. «In der Bäckerei kostet ein Vollkornbrötchen mindestens 35 Cent, das macht sich für mich durchaus bemerkbar. Hier kann ich so viel essen, wie ich will.»

Peter Sulga trägt eine dicke karierte Jacke und eine Wollmütze, auf der St. Pauli steht. Seine dicken Kopfhörer hat er zurückgeschoben. Viele Jahre hat er als Zolldeklarant gearbeitet, dann als Disponent bei der Lufthansa, mit gutem Gehalt. Als bei der Lufthansa umstrukturiert wurde, musste Sulga gehen. Er schlug sich mit verschiedenen Jobs durch, auch auf dem Bau.

Eine Tages fiel er vom Gerüst, Schädelbruch, Operation, drei Wochen im Wachkoma. Danach ging frühzeitig in Rente – arbeitsunfähig. Heute muss Sulga mit weniger als 900 Euro im Monat auskommen. Der gebürtige Hamburger macht gern Sprüche – vielleicht ist das seine Überlebensstrategie. 

Zum Beispiel: «Ich komme gern zum Essen in die Alimaus. Dann fällt bei mir in der Wohnung kein Hausmüll an.» Seine Schwester, erzählt er, sei mit 65 an Krebs gestorben. Sie wollte eine Seebestattung, und die habe sie auch gekriegt. «Mir selbst ist egal, wie ich begraben werde. Wenn ich tot bin, bin ich tot.» Das klingt ein bisschen trotzig und traurig zugleich.

Die Ehrenamtlichen räumen jetzt die Tische ab, 12 Uhr, das Frühstück ist beendet. Peter Sulga steht auf, er wird in seine Einzimmerwohnung in Jenfeld zurückfahren. Marlies Bauss nimmt ihren Stock, der neben dem Tisch lehnt, das Gehen fällt ihr nicht mehr so leicht.

Am nächsten Morgen werden sie wiederkommen. So wie die vielen anderen hier, die froh sind, sich über ihr Frühstück keine Gedanken zu müssen. Bis zum Nachmittag muss es vorhalten. Manchmal auch länger.