Eine glückliche Liebe wird auf die Probe gestellt - demenzjournal.com

Interview

Eine glückliche Liebe wird auf die Probe gestellt

Hansjörg Schertenleib. David Clough

Der Schweizer Schriftsteller Hansjörg Schertenleib schildert in seinem anrührenden Buch, wie ein alter Mann seine an Alzheimer erkrankte Frau pflegt. Im Interview erzählt er, welche persönlichen Erfahrungen in sein Buch eingeflossen sind.

alzheimer.ch: Ihr Buch «Die Fliegengöttin» handelt von einem 83-jährigen Mann, Willem, der seine an Alzheimer erkrankte Frau Eilis zu Hause pflegt. Beide haben sich versprochen, füreinander da zu sein, was auch immer geschieht. Was hat Sie an dieser Konstellation besonders interessiert?

Hansjörg Schertenleib: Ich beschäftige mich seit einigen Jahren mit den Themen Demenz und Alzheimer und vor allem auch damit, wie es ist, an Demenz oder Alzheimer erkrankte Menschen zu Hause zu pflegen.

Da es mir als Schriftsteller wichtig ist, das Schwere leicht zu machen, suchte ich lange nach der richtigen Form oder vielmehr der richtigen Geschichte, um über diese doch gewichtigen Themen zu schreiben. So kam ich auf die Geschichte eines Ehepaares, das seit über 50 Jahren glücklich verheiratet ist – und dessen geglückte Liebe nun durch die Krankheit auf die Probe gestellt wird.

Mich haben also auch die Fragen umgetrieben: Wie gross kann eine Liebe sein, was hält sie aus, was vermag sie zu tragen, und gibt es eine Grenze, die selbst eine grosse geglückte Liebe nicht überschreiten kann?

Wie weit also geht man, wenn man einem geliebten kranken Menschen bis zum Letzten beisteht?

Willem kümmert sich liebevoll um seine Frau, stösst aber immer wieder an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Muten sich pflegende Angehörige oft zu viel zu?

Das tun sie in der Tat – und zwar aus Liebe. Sie ordnen sich zu sehr unter, sperren eigene Bedürfnisse, Wünsche und Träume aus und hören damit eigentlich auf zu existieren – abgesehen von ihrer Rolle als Pflegende. Das halte ich für falsch und gefährlich.

Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib wurde 1957 in Zürich geboren. Der gelernte Schriftsetzer arbeitet seit 1982 als freier Schriftsteller. Für seine Bücher – Theaterstücke, Romane und Lyrik – bekam er zahlreiche Preise. Der Autor, der auch aus dem Englischen übersetzt und journalistisch tätig ist, verbrachte viele Jahre in Irland und besitzt die irische Staatsbürgerschaft. Heute lebt er in der Schweiz und in den USA (Maine).

Es besteht die Gefahr, dass die Frustration, die daraus zwangsläufig in den meisten Fallen resultiert, irgendwann dem Kranken zum Vorwurf gemacht wird. Gelegentlich mündet sie gar in hilflose Gewalt gegen den geliebten kranken Menschen.

Manche Angehörige sehen es als Niederlage an, wenn sie die Pflege nicht mehr schaffen und der Partner, der Vater oder die Mutter in ein Heim gehen muss. Wie kann man den Angehörigen helfen, keine Schuldgefühle zu entwickeln?

Indem man ihnen beisteht, sich mit ihnen unterhält, auch ihre Bedürfnisse und Wünsche ernst nimmt. Allerdings setzt das voraus, dass sich Pflegende, die überfordert sind, einem gegenüber bekennen und öffnen. Leider warten sie oft zu lange, bis sie sich jemandem anvertrauen und um Hilfe oder zumindest Hinwendung bitten.

Wie weit haben Sie für Ihr Buch über Demenz recherchiert?

Ich habe zahllose Bücher gelesen, Romane wie Sachbücher, mit Betroffenen geredet, mit Demenzkranken, Ärzten, Patienten, Angehörigen. Ich habe Kliniken besucht und Pflegeheime. Die Recherchearbeit ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, der ich sehr viel Raum und Zeit gebe. Ich kann nur über Dinge schreiben, die ich so genau wie möglich kenne.

Was hat Sie bei Ihren Recherchen besonders beeindruckt, was hat Sie betroffen gemacht?

Beeindruckt haben mich Geduld und Zuwendung vieler Pflegerinnen, Pfleger und Ärzte, Geduld und Liebe der Angehörigen sowie der subversive Schalk und die sprühende Lebensfreude vieler an Alzheimer oder Demenz erkrankter Menschen.

Betroffen machen mich Kranke, die sich vollständig in sich selbst verkrochen, von der Welt und ihrem Leben verabschiedet haben und doch nicht gehen dürfen. Betroffen gemacht haben mich aber auch Begegnungen mit Angehörigen, die von der Situation überfordert sind und nicht mehr ein noch aus wissen.

Der Umschlag des neuen Buchs.

Ihre Mutter litt 20 Jahre an Magenkrebs, Ihr Vater hat sie bis zu ihrem Tod gepflegt. Diese Erfahrung ist in Ihr Buch eingeflossen. Wie ist Ihr Vater mit der Belastung der Pflege umgegangen?

Mit bewundernswerter Geduld, Hingabe und grosser Liebe. Ihn bei der Pflege meiner Mutter zu sehen, hat ihn mir näher gebracht als alles andere. Ich habe damit eine Seite an ihm kennen gelernt, für die ich vorher blind war oder die er vielleicht auch verbarg.

Er ist, das darf ich so sagen, an der Aufgabe gewachsen. Auch wenn er gelegentlich verzweifelt war. Soweit ich es wahnrnahm, hat er diese Verzweiflung jedoch nur sehr selten an meine Mutter weitergegeben. Dafür hat er meinen ganzen Respekt.

Häufig sind es die Frauen, die ihre erkrankten Partner pflegen. Bei Ihren Eltern war es umgekehrt. Können Männer ebenso gute Pfleger sein wie Frauen?

Ich möchte hier nicht verallgemeinern. Mein Vater konnte es. Ja, ich denke, Männer sind zu aufopfernder Pflege fähig.

Was müsste sich aufgrund Ihrer Recherchen in den Pflegeheimen ändern, damit Menschen mit Demenz mehr die Zuwendung bekommen, die sie individuell brauchen?

Um diese Frage kompetent beantworten zu können, müsste ich in einem Pflegeheim arbeiten. Es steht mir nicht zu, die Arbeit von Ärzten sowie Pflegerinnen und Pflegern zu kritisieren.

Was mir in mehreren Pflegeheimen jedoch negativ auffiel, war die moderne, nüchterne, ja kalte Architektur – dies für Patienten, die ihr Leben lang in ganz anderen Häusern und Wohnungen lebten. Die Tatsache, dass es offensichtlich wichtiger war, Visionen von Architekten zu realisieren, statt auf die Bedürfnisse von Demenzkranken einzugehen, finde ich grundfalsch. Freilich gibt es auch andere Beispiele, gute Beispiele.

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Wie weit macht die Krankheit Demenz Ihnen persönlich Angst? Denken Sie, wenn Sie den Hausschlüssel verlegt haben, automatisch, dass das womöglich schon ein Vorzeichen ist?

Die kleinen Vergesslichkeiten des Alltags machen mir keine Angst. Gleichwohl kenne ich die Furcht, an Alzheimer zu erkranken oder dement zu werden. Die Vorstellung, nicht mehr Herr seiner Gedanken, Gefühle und Erinnerungen zu sein und wohl sein eigenes Ich zu verlieren, ist erschreckend und entzieht einem den Boden, auf dem man sicher zu stehen glaubt.

Bleibt natürlich die Frage, ob man sein Ich denn tatsachlich verliert, wenn man an Alzheimer erkrankt oder dement wird.

Ich würde jedenfalls viel dafür geben, einmal für eine Zeit zu erfahren, wie es ist, an dieser Krankheit zu leiden – auch wenn dies vermessen klingen mag. Das würde uns jedenfalls helfen, richtig und angemessen auf Alzheimer- und Demenzkranke einzugehen und mit ihnen zusammenzuleben.


Hansjörg Schertenleibs Buch, die Novelle «Die Fliegengöttin», ist im Gatsby Verlag/Kampa Verlag erschienen (176 Seiten, CHF 24.50).