Sie sind der «Erziehungs-Papst» der Schweiz. Ihre Bücher «Babyjahre», «Kinderjahre», «Schülerjahre» und «Jugendjahre» begleiten Familien im In- und Ausland seit Langem. Fühlen Sie sich wohl in dieser Rolle?
Remo Largo: Natürlich ist es schön, Anerkennung zu bekommen und bekannt zu sein, aber es gibt auch eine Kehrseite. Man ist irgendwie auf eine Rolle fixiert, steht im schlimmsten Fall auf einem Sockel. Ich freue mich dann, wenn die Aufmerksamkeit nicht meiner Person, sondern meiner Arbeit gilt.
Warum wurden gerade Ihre Bücher so bekannt? Trafen Sie mit Ihren Erziehungsgrundsätzen den Nerv der Zeit?
Das erste Buch «Babyjahre» ist nun seit 25 Jahren in den Buchhandlungen und wird auch ohne jede Werbung rege gekauft. Es ist offenbar für die Eltern hilfreich, und so machen sie Mundpropaganda.
Für mich sind meine Bücher keine Ratgeber.
Gab es nichts Vergleichbares?
Nein. Der Stellenwert meiner Bücher hatte mit der Aussagekraft und dem Umfang unserer Studien zu tun. Alle wichtigen Entwicklungsbereiche wie Sprache und Motorik wurden bei mehr als 700 Kindern untersucht – von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Solch aufwendige Studien über so viele Jahre sind einzigartig und wären heute schlicht zu teuer.
Zur Person
Remo Hans Largo studierte Medizin und Entwicklungspädiatrie und leitete von 1978 bis zur Pensionierung 2005 die Abteilung «Wachstum und Entwicklung» am Universitäts-Kinderspital Zürich. Er verfasste mehrere Sachbücher über Kinder und Jugendliche, die als Klassiker der Erziehungsliteratur gelten und in viele Sprachen übersetzt wurden. 2017 ist sein neustes Buch «Das passende Leben» erschienen, in dem er sich mit der menschlichen Entwicklung als Ganzem auseinandersetzt. Remo Largo ist Vater von drei Töchtern und hat vier Enkelkinder.
Warum brachte gerade die Universität Zürich so gute Studien heraus?
In der Aufbruchsstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg wurden an verschiedenen europäischen Universitäten Entwicklungsstudien in Auftrag gegeben. Die erste Zürcher Longitudinalstudie wurde 1954 am Universitäts-Kinderspital Zürich begonnen.
Die Schweiz spielte damals in der Forschung eine wichtige Rolle, weil wir weitgehend vom Krieg verschont geblieben waren und mehr Ressourcen als andere Länder zur Verfügung hatten.
Sie gingen in die Forschung, weil Sie aus gesundheitlichen Gründen Ihren Traumberuf Kinderchirurg nicht ausüben konnten. Haderten Sie deswegen mit dem Schicksal?
Rückblickend war es eigentlich ein Glücksfall. Als junger Mann habe ich einen Schlaganfall erlitten, war eine Zeit lang gelähmt und verlor einseitig das Gehör. Die körperlichen Einschränkungen machten es mir unmöglich, als Chirurg tätig zu sein.
Mit der Forschungsarbeit konnte ich jedoch etwas tun, was mir sehr entsprach. Mein Interesse galt schon früh dem Wesen Mensch. Als Kinderchirurg wäre ich vermutlich aber auch nicht unglücklich gewesen!
Wie hat sich die Entwicklung von Kindern verändert zwischen Ihren Anfängen als Kinderarzt und heute?
Ich bin aus einer Reihe von Gründen sehr besorgt. Damit sich Kinder gut entwickeln können, müssen sie sich geborgen fühlen. Zuwendung ist aber heute oft nicht mehr ausreichend gewährleistet, weil berufstätige Eltern in der Kleinfamilie oder Alleinerziehende damit überfordert sind.
Kinder wurden in der Vergangenheit nie allein von den Eltern aufgezogen. Nicht umsonst sagt man in Afrika, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind beim Heranwachsen zu begleiten.
Eine weitere Sorge ist, dass die Kinder auf eine Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft hin getrimmt werden. Das gilt ganz besonders für die Schule. Immer mehr Kinder leiden deswegen und werden sogar krank.