«Alle haben sich weggeduckt» - demenzjournal.com

Nationale Demenzstrategie

«Alle haben sich weggeduckt»

«Wir haben ein System der organisierten Unzuständigkeit», sagt Stefan Sell. PD

Der Ökonom, Sozialwissenschaftler und ehemalige Pfleger Stefan Sell hält wenig von der Nationalen Demenzstrategie. «Alpenhafte Hindernisse» seien bei der Verbesserung der Altenhilfe zu überwinden. Er appelliert an die pflegenden Angehörigen, sich mehr zu wehren.

alzheimer.ch: Professor Sell, Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn haben kürzlich die erste Nationale Demenzstrategie in Deutschland gestartet. Sie sei schon jetzt «ein grosser Erfolg aller Beteiligten», so die Minister. Teilen Sie diese Einschätzung?
 
Stefan Sell: Das soll jetzt wirklich nicht negativ klingen. Aber das, was hier als Nationale Demenzstrategie vorgelegt wurde, ist vor allem eine Fleissarbeit. 
 
Eine Fleissarbeit? Daran haben Vertreter von sieben Bundesministerien, der Länder, der Kommunen, zahlreiche Medizingesellschaften, Pflegeverbände, der Krankenversicherungen und viele andere mehr als ein Jahr lang gearbeitet und mehr als 160 konkrete Massnahmen vereinbart.
 
Sell: Die Beteiligten haben die langjährigen Diskussionen über eine bessere Versorgung und Betreuung von Menschen mit Demenz zusammengetragen. Sie haben auch die in vielen oftmals befristeten Modellvorhaben erprobten notwendigen Teilmassnahmen sehr gut beschrieben.

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Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Aber die von vielen beklagten strukturellen Probleme, unter denen die Altenhilfe seit vielen Jahren leidet, werden nicht in der erforderlichen Tiefe und Deutlichkeit beschrieben. Man findet sie in der Regel unausgesprochen als Hintergrund in den vielen Einzelmassnahmen gespiegelt. Und das, obwohl einige dieser Probleme sich gerade in der aktuellen Corona-Krise noch einmal überdeutlich gezeigt haben.

Prof. Stefan Sell

Stefan Sell, 56, lehrt Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Er befasst sich seit Jahren mit den Missständen in der Pflege und mit Fragen der Pflegefinanzierung. Vor seinem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Über seine Lehrtätigkeit hinaus beteiligt sich Sell durch zahlreiche Publikationen und Vorträge am gesellschaftlichen Diskurs über sozial- und arbeitsmarktpolitische Fragen. Zudem betreibt er einen eigenen Blog mit, wie er selbst schreibt, «Informationen, Analysen und Kommentaren aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik».

Welche Probleme meinen Sie?

Es gibt erstens nicht nur einen riesigen Mangel an fachlich qualifiziertem Personal. Wir haben zweitens auch ein System der organisierten Unzuständigkeit. Denken Sie nur an die Situation in der ersten Corona-Welle des vergangenen Jahres.

Es war schnell klar, dass Altenheime Hotspots der Pandemie sind.

Schon in den ersten Wochen lagen von Fachleuten gute Vorschläge zum Schutz der Senioren vor. Aber es wurde versäumt, vorausschauende Konzepte wie Kriseninterventionsteams, Personalschulungen, pflegerische Notfalldienste und Test-Teams einzuführen.

Stattdessen hat man unwürdige, unverhältnismässige und mit zahlreichen Kollateralschäden verbundene Kontaktverbote verhängt. Heimbewohner und ihre Angehörigen wurden schlechter behandelt als Häftlinge in einer Justizvollzugsanstalt.

Viele Senioren mussten alleine sterben und auch die Angehörigen und die Pflegekräfte wurden allein gelassen. In einer solchen Krise muss der Staat nicht nur Mitverantwortung übernehmen, sondern auch aktiv werden. Das ist aber nicht geschehen. Im Gegenteil.

Man hat auch noch jegliche Kontrolle der Heime ausgesetzt. Es entfielen nicht nur die Prüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, sondern vor allem auch die Kontrollen durch die zumeist desaströs schlecht aufgestellte kommunale Heimaufsicht.

Keiner wollte haftbar gemacht werden. Keiner wollte zuständig sein. Alle haben sich weggeduckt. Für mich ist das ein klarer Fall eines staatlichen Organisationsversagens.

Muss man nicht fairerweise berücksichtigen, dass die Nationale Demenzstrategie zwischen Januar 2019 und April 2020 und damit zum grössten Teil vor Ausbruch der Corona-Pandemie entwickelt und konsentiert wurde?

Das stimmt. Aber auch unabhängig von den Zuspitzungen durch die Corona-Krise erkennt man in der Nationalen Demenzstrategie eine gewisse Unwucht zugunsten sehr kleinteilig beschriebener und sicher auch hilfreicher punktueller Einzelmassnahmen, die oft der Logik des Kurierens an Symptomen folgen.

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Ein harter Vorwurf. Was an den Massnahmen ist denn so falsch?

Die meisten in der Nationalen Demenzstrategie beschriebenen Aktivitäten setzen ein, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Also dann, wenn eine Person schon demenzkrank geworden ist. Um älteren Menschen umfassend zu helfen und kognitive Einschränkungen so gut wie möglich zu kompensieren oder ihren Eintritt und Verlauf zeitlich zu strecken, müsste man aber viel früher ansetzen.

Wie soll das funktionieren?

Menschen erkranken ja nicht von heute auf morgen an Demenz. Oft gibt es langjährige Übergangsphasen, in denen unterschiedliche Hilfen benötigt werden. In Dänemark funktioniert das mit den Hilfen vorbildlich. Dort bekommen nicht nur kranke, sondern auch gesunde Senioren regelmässig Hausbesuche von Fachkräften.

Diese versuchen schon im Vorfeld, die häusliche Situation zu verbessern, wenn sie feststellen, dass es Bedarf für Hilfe gibt. Wenn man so vorgeht, helfen oft schon kleine, preisgünstige Veränderungen, um Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu überwinden oder zu mildern und alten Menschen die Möglichkeit zu erhalten, so lange wie möglich selbstbestimmt am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen.

Liegt das daran, dass die Skandinavier einfach eine andere Kultur haben? Auch Schweden ist ja bekannt für seinen Wohlfahrtsstaat.

Vorsicht! In Schweden zum Beispiel sieht es inzwischen komplett anders aus. Dort wird im Bereich der Altenpflege seit 20 Jahren kontinuierlich gespart. Ausserdem hat man die Pflegeheime stark privatisiert. Seit 12 bis 15 Jahren läuft es dort überhaupt nicht mehr gut.

Zunehmend mehr Menschen bekommen nicht mehr die Hilfe, die sie eigentlich bräuchten. Das ist auch auf die privaten Heimbetreiber zurückzuführen.

Was sich zu Beginn der Corona-Krise in schwedischen Pflegeheimen abgespielt hat, war ein Alptraum.

Die dortige Gesundheitsbehörde gab später selbst zu, sie habe nicht gewusst, unter welchen schlechten Bedingungen in den Altersheimen und in der häuslichen Pflege gearbeitet wird.

Der deutschen Bundesregierung scheint durchaus klar zu sein, dass auch dem Staat, speziell den Kommunen, eine wichtige Rolle zukommt. Ein Ziel der Nationalen Demenzstrategie ist es explizit, die soziale Infrastruktur vor Ort umzubauen und die Altenhilfeplanung auf kommunaler Ebene auszuweiten.

Um das deutlich hervorzuheben: Ich sehe in der Kommunalisierung der Altenhilfe den strategischen Schlüssel. Denn viele Fragen und Aufgaben können am besten oder sogar nur vor Ort gelöst werden.

Die Lebensumstände und Gegebenheiten sind ja regional sehr unterschiedlich.

Eigentlich ist dafür auch schon alles vorhanden. Im Sozialgesetzbuch ist die Altenhilfe eigentlich und wirklich umfassend, weil nicht nur auf Pflege oder Defizite begrenzt als kommunale Pflichtaufgabe beschrieben. Darin sind auch etliche Arten von Leistungen für Senioren definiert, die Teilhabe und Prävention ermöglichen. Das Problem ist nur, dass es dafür keinen echten Rechtsanspruch gibt.

Viele Städte und Kommunen bewerten diese Leistungen seit Jahren als eine freiwillige und zusätzliche Aufgabe und weigern sich, dafür Geld auszugeben – oder sie haben es schlichtweg nicht. Aus meiner Sicht müsste man das dringend ändern.

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Aber wann immer diese Diskussion in Kommunen, Ländern oder im Bund aufkam, wurde sie in der Vergangenheit mit dem Verweis auf eine angebliche Nicht-Finanzierbarkeit abgewürgt.

Wie könnte man das ändern?

Wenn man im Sinne der betroffenen Menschen etwas verbessern wollte und zugleich den Wachstumsschub aufgrund der demografischen Entwicklung miteinbezieht, müsste man deutlich mehr Geld zur Verfügung stellen.

Die Dänen beispielsweise geben pro Einwohner rund dreimal so viel für Altenhilfe und Langzeitpflege aus wie wir.

Das allein würde aber nicht reichen. Es wäre sogar fatal, einfach nur mehr Geld in das bestehende System zu stecken.

Inwiefern?

Man müsste das gesamte System der Altenhilfe von der Struktur und den Prozessen her anders aufziehen. Es müsste sichergestellt werden, dass die Kommunen bei der Organisation der Altenhilfe den Hut aufhaben. Und dann muss man die kommunale Ebene aber auch dazu befähigen.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist – neben einer auf Dauer angelegten und auskömmlichen Finanzierung, die nicht von der Wirtschaftslage der Kommune abhängen darf – fachlich qualifiziertes Personal.

Um Seniorinnen und Senioren besser unterstützen, versorgen und betreuen zu können, braucht man Fachkräfte, die sich sowohl pflegerisch und gerontologisch auskennen als auch in der Lage sind, Übersetzungsprozesse zu leisten.

Ausserdem brauchen diese Leute Netzwerk-Kenntnisse.

Sie müssen zum Beispiel in der Lage sein, durchaus vorhandene, aber fragmentierte Hilfen zu bündeln und überhaupt zugänglich zu machen. Gerade auf diesem Gebiet haben wir in Deutschland aber ein riesiges Problem.

Die Kommunen sind personell extrem ausgedünnt und es gibt kaum Leute, die fachlich in der Lage sind, diese Aufgaben zu stemmen. Das sind enorme Hürden einer notwendigen Professionalisierung der Altenhilfe, die man hier überwinden muss.

Gibt es trotzdem eine Chance, die Altenhilfe besser zu organisieren?

Schwer zu sagen. Auch wenn ich mir was anderes wünschen würde: Ich glaube nicht, dass unser föderales System von sich aus die Kraft hat, etwas zu ändern. Die verschiedenen Ebenen blockieren sich gegenseitig. Der Druck müsste von den Angehörigen kommen.

Das Problem ist, dass die Angehörigen strukturell nicht organisiert sind. Sie haben keine Lobby.

Deshalb werden sie kaum bis gar nicht gehört, sondern vor allem benutzt. Das bisherige System aber würde nur auf spürbare Stromstösse reagieren. Potenziell hätten pflegende Angehörige eine enorme Macht. Denn bisher verlässt sich die Politik immer noch auf die gigantische Bürgerarbeit, die sie leisten.

Ein Grossteil der Seniorinnen und Senioren und der Demenzkranken wird nach wie vor zuhause und von Angehörigen versorgt. Wenn nur zehn Prozent von ihnen sagen würden, wir machen das nicht mehr mit, würde das ganze Pflegesystem zusammenbrechen.

Die Nationale Demenzstrategie

Was Frankreich, Schottland und die Schweiz schon vor Jahren geschafft haben, ist nun auch in Deutschland gelungen: Erstmals haben Bundesseniorenministerin Franziska Giffey und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September 2020 eine Nationale Demenzstrategie gestartet.

Sie wurde zwischen Januar 2019 und April 202 von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam mit der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sowie zahlreichen Verbänden des Gesundheitssystems und weiteren Akteuren erarbeitet. Insgesamt wurden darin 27 Ziele formuliert und 162 Maßnahmen vereinbart, welche die Situation von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen in Deutschland in allen Lebensbereichen nachhaltig verbessern sollen.

Die Strategie ist in vier sogenannte Handlungsfelder gegliedert. Zum Handlungsfeld 1 gehören Maßnahmen, die die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz an ihrem Lebensort stärken sollen. Die Palette der Aktionen reicht von Programmen zum Auf- und Ausbau von ehrenamtlichen Besuchs- und Begleitdiensten über verbesserte Wohnkonzepte für Menschen mit Demenz bis hin zu Kampagnen, mit denen die Öffentlichkeit für das Thema Demenz sensibilisiert werden soll.

Im Handlungsfeld 2 geht es vor allem um eine bessere Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Geplant ist unter anderem der Ausbau der Unterstützung bei rechtlichen Fragen, aber auch Schulungen für Angehörige, wie sie zum Beispiel familiäre Konflikte bewältigen oder Pflege und Beruf besser miteinander vereinbaren können. Außerdem enthalten ist der Ausbau von Angeboten zur Prävention und Rehabilitation für Angehörige von Menschen mit Demenz.

Das Handlungsfeld 3 fokussiert darauf, die medizinische und pflegerische Versorgung von Menschen mit Demenz weiterzuentwickeln. Eines der Ziele ist, die ambulante und teilstationäre Pflege sowie die Kurzzeitpflege zu fördern. Gleichzeitig sollen aber Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen besser auf die Behandlung und Versorgung von Menschen mit Demenz vorbereitet werden. Modellhaft soll zum Beispiel der Einsatz einer Fachkraft mit besonderen Kompetenzen im Bereich Versorgung von Menschen mit Demenz überprüft werden.

Ziel von Handlungsfeld 4 ist es, die Forschung zu Demenz auszubauen, um die Ursachen und die Entstehung von dementiellen Erkrankungen besser zu verstehen und die Behandlung und Versorgung zu verbessern. Geplant ist nicht nur, dass die Forschungseinrichtungen in Deutschland dazu die Infrastruktur der klinischen Demenzforschung ausbauen. Menschen mit Demenz sollen auch verstärkt in Forschungsprojekte einbezogen werden – wenngleich in diesem Zusammenhang noch ethische, rechtliche und soziale Aspekte zu klären sind. Schließlich bringt es die Krankheit mit sich, dass gängige Patienteninformations- und Einwilligungsverfahren bei Menschen mit Demenz nicht unproblematisch sind. In Handlungsfeld 4 wird auch deutlich, dass die Nationale Demenzstrategie ausgesprochen industriefreundlich ist. Zu den Zielen gehört ein leichterer „Zugang zu umfassenden Routinedaten“, Patientendaten und eine einfachere Zulassung von Medikamenten geht. Geplant ist unter anderem ein Zugang zu umfassenden Routinedaten aus der Krankenversicherung für Forschungszwecke sowie der Ausbau von Biobanken und beschleunigte Verfahren bei der Zulassung von Arzneimitteln für Menschen mit Demenz.