Nationale Demenzstrategie – grosser Schritt oder Papiertiger? - demenzjournal.com

Kommentar

Nationale Demenzstrategie – grosser Schritt oder Papiertiger?

Die mehr als 160 von den Gestaltungspartnern festgelegten Massnahmen sind geprägt vom Machbaren, von Ressourcen wie Finanzen und Personal. Beratung ist ganz grossgeschrieben, und in fast jeder fünften Massnahme ein Thema. Bild Pixabay

Die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und insbesondere deren gesellschaftliche Teilhabe sollen nachhaltig verbessert werden. Das ist das Ziel der im vergangenen Herbst in Deutschland vorgestellten Nationalen Demenzstrategie.

Von Heike von Lützau-Hohlbein, Präsidentin Alzheimer Europe

Die Entstehungsgeschichte der Deutschen Demenzstrategie ist lang, sie begann vor neun Jahren mit einem Schreiben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft an Kanzlerin Merkel mit der Forderung nach einer Demenzstrategie als ministeriumsübergreifende Aktion.

Es gab Zwischenschritte, es wurde die «Allianz für Menschen mit Demenz» entwickelt. Die Pflegeversicherungsgesetze wurden verbessert, besonders aus Sicht der psychisch Kranken und damit auch der Demenzkranken. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde nach langem Ringen angepasst.

Im Grossen und Ganzen ist die Nationale Demenzstrategie zu begrüssen. Aber wo bleibt der grosse «Wumms»?

Zum Vergleich: «Ich höre sozusagen wirklich den Krach», sagte die Schriftstellerin Ulrike Draesner bei der Vorstellung des milliardenschweren Konjunkturpakets durch Olaf Scholz im Juni 2020 – das hätte ich mir am 23. September auch gewünscht.

Heike von Lützau-Hohlbein

Die Informatikerin ist Kuratorin des KDA (Kuratorium Deutsche Altershilfe), Kuratoriumssprecherin der Deutschen Alzheimer Stiftung, Mitglied im Vorstand der Aktion Demenz, ehemalige Erste Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und Präsidentin von Alzheimer Europe. Kontakt: heike.luetzau@deutsche-alzheimer-stiftung.de

Die mehr als 160 von den Gestaltungspartnern festgelegten Massnahmen sind geprägt vom Machbaren, von Ressourcen wie Finanzen und Personal. Beratung ist ganz grossgeschrieben, und in fast jeder fünften Massnahme ein Thema.

Müssen wir uns nicht fragen, warum soviel Beratung notwendig ist? Sind die Gesetze und Verordnungen zu kompliziert für den «normalen» Bürger? Noch mehr Beratung für noch mehr komplizierte Gesetze!

Nicht umsonst wird ein Abbau der Bürokratie im Pflegebereich – besonders im häusIichen – gefordert und ein Pflege- und Entlastungsbudget diskutiert.

In den Massnahmen ist viel von sollte … , wird unterstützt … , setzen sich ein …  die Rede. Die Gestaltungspartner waren nicht immer diejenigen, die auch weisungsbefugt sind.

Die existierenden Demenzpläne einiger Bundesländer konnten konkreter und verpflichtender formuliert werden. Hier zeigt sich deutlich die Problematik unseres föderalen Staates. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sind die Leidtragenden.

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Im Rahmen der Umsetzung der Massnahmen werden viele Empfehlungen und Handreichungen überarbeitet oder neu erstellt. Ich würde mir wünschen, dass es eine Verpflichtung zu deren Implementierung gäbe. Teilhabe ist in nur wenigen Massnahmen direkt erwähnt. Das eigentliche Ziel der Nationalen Demenzstrategie kann oft nur indirekt verfolgt werden.

Es ist bedauerlich, dass in etlichen Fällen modellhaft schon vorhandene Strukturen nicht kreativ flächenmässig ausgeweitet werden. Auch hier liegt der grösste Hemmschuh in der länderspezifischen Ausgestaltung.

Sicher sind im Grundlagen-, Präventions-, sowie im Versorgungsbereich medizinische und pflegerische Expertise wichtig und entsprechende Forschung unabdinglich.

Nur ein medizinisch und pflegerisch gut begleiteter Mensch mit Demenz kann die vorhandenen Teilhabeangebote nutzen.

Die vereinbarten Massnahmen im sozialen Bereich sind zu begrüssen, auch wenn ich mir hier viel mehr Kreativität und visionäre Inhalte gewünscht hätte. Aber wie sagt man? Unter dem Dach einer Strategie ist noch viel mehr denkbar und möglich als heute geschrieben steht.

Weitere Partner können sich einbringen, erprobte Therapien können ausgeweitet werden, wobei immer die Finanzierung mitgedacht werden muss. Prinzipiell stellt sich die Frage, ob die Angebote immer von den Betroffenen her gedacht sind.

Die Versorgungsforschung hat uns bisher wenig Auskunft darüber geben können, welche Therapien und Massnahmen für welche Menschen in welchen Krankheitsstadien hilfreich sind und welche Hemmschwellen dazu führen, die Hilfsangebote nicht anzunehmen.

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Ich frage mich immer wieder, was für die Menschen, die ich persönlich mit ihrer Demenz über Jahre begleitet habe, anders gewesen wäre, wenn es schon damals eine Demenzstrategie gegeben hätte.

Wir wären schneller informiert gewesen, hätten weniger gelitten bis zur Diagnose, wären danach professionell begleitet worden, Ärzte, Ärztinnen und Pflegende hätten mehr gewusst und ein Krankenhausaufenthalt wäre nicht der Horror gewesen.

Wir wären offener mit Demenz umgegangen und hätten insgesamt ein besseres Leben mit Demenz gehabt. Ich wünsche mir, dass die Strategie dazu führt, dass die Familien, die sich heute und in Zukunft mit der Krankheit Demenz auseinandersetzen müssen, es leichter haben.


Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift «Pro Alter» 4/2020. Wir danken dem Medhochzwei-Verlag für die Gelegenheit der Zweitverwertung.