Selbst verschuldeter Notstand - demenzjournal.com

Altenpflege

Selbst verschuldeter Notstand

Experten gehen davon aus, dass sich die massenhafte Flucht aus dem Pflegeberuf nur dann beheben lässt, wenn sich die Rahmenbedingungen deutlich verbessern: wenn die Bezahlung stimmt und die Arbeitsbelastung reduziert wird. Daniel Kellenberger

In Altenheimen herrscht dramatischer Personalmangel. Auch viele Betreiber sehen sich als Leidtragende und fordern Hilfe von der Politik. Doch das Problem ist hausgemacht. Und hat System.

Die Zahlen, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Ende Februar 2020 vorgelegt bekam, sind niederschmetternd.

Sie zeigen: In Deutschland wird es weder mit der Schaffung jener 8000 neuen Stellen im Pflegesektor getan sein, die CDU, SPD und CSU Anfang 2018 in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt hatten, noch werden die 13’000 zusätzlichen Stellen reichen, die Spahn mit seinem Sofortprogramm zur Linderung des Pflegenotstands in Aussicht gestellt hat.

Tatsächlich bräuchte es 120’000 zusätzliche Pflegekräfte, damit Pflegebedürftige in Altenheimen angemessen betreut werden können.

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Das ist das Ergebnis eines Gutachtens, das Experten der Universität Bremen im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellt und Ende Februar 2020 vorgestellt haben. Erstmals hat das Team um den Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang auf wissenschaftlicher Basis errechnet, wie viel Personal nötig wäre, um die hohe Arbeitsbelastung in den Altenheimen zu senken und so eine adäquate Betreuung zu ermöglichen.

Sie schlagen vor, dass eine Pflegekraft künftig rechnerisch im Schnitt 1,8 Pflegebedürftige betreuen soll. Aktuell beträgt die Quote 1 zu 2,5. Demnach müsste die Zahl der Pflegekräfte um mehr als ein Drittel (36 Prozent) erhöht werden, von derzeit etwa 320’000 auf 440’000.

Unklar ist allerdings, woher die 120’000 zusätzlichen Pflegekräfte kommen sollen.

Schon 2018 waren nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BfA) rund 40’000 Stellen in der Pflege unbesetzt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer, sagen Experten, ist viel höher. Viele Arbeitgeber meldeten sich gar nicht mehr bei der BfA – weil sich ohnehin kaum jemand bewerbe.

Der Fachkräftemangel gefährdet inzwischen auch das Geschäft der Betreiber. Mehrere Heime mussten bereits schliessen, weil sie kein qualifiziertes Personal mehr fanden, um die gesetzlich geforderte Fachkraftquote zu erfüllen.

Ende August 2019 traf es das Asklepios Pflegeheim im nordrhein-westfälischen Höxter. «Wir bekommen einfach keine Pflegefachkräfte», erklärte der Chef der Einrichtung. Die Lage habe sich in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert. Nun sei der Markt «leergefegt».

Das Asklepios Pflegeheim in Nordrhein-WestfalenPD

Geht es nach dem Bundesverband privater Pflegeanbieter (bpa), der die Interessen von 60 Prozent aller privaten Pflegedienste und von 87 Prozent aller privaten Heime in Deutschland vertritt, sind an der Misere vor allem die «zu strikten» gesetzlichen Personalvorgaben schuld.

Sie beinhalten, vereinfacht gesagt, dass mindestens die Hälfte des Personals in einem Pflegeheim aus Fachkräften bestehen muss. Diese Regel, moniert bpa-Präsident Bernd Meurer seit Jahren, sei viel zu starr.

Um auf die wachsende Lücke zwischen Betreuungsbedarf und Nachfrage nach Angeboten zu reagieren, bedürfe es neuer Konzepte. Der Gesetzgeber, so Meurer, solle den Heimbetreibern mehr Raum für die Anstellung von – in der Regel auch billigeren – Hilfskräften geben.

Dabei führe der Einsatz von mehr ungelernten Mitarbeitern nicht automatisch zu einer schlechteren Pflege.

Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) sieht das anders. «Aus fachlicher, qualitativer und ethischer Sicht sind Überlegungen, ob Pflegefachkraftquoten weiter abgesenkt werden können, nicht haltbar.»

Schliesslich setze eine gute Versorgung der Bewohner ein hohes Mass an pflegerisch-medizinischen Kenntnissen voraus. Die Fachkraftquote werde jedoch in Deutschland seit Jahren flächendeckend unterschritten. «Darunter leidet schon jetzt die Qualität der pflegerischen Versorgung.»

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Statt weniger brauche es künftig sogar mehr Qualifikation in der Pflege, so Knüppel. Denn angesichts der demografischen Veränderungen werden Pflegende immer mehr hochaltrige Menschen betreuen müssen, die oft ein komplexes Krankheitsbild aufweisen. Dafür sei hochschulisch ausgebildetes Personal nötig, das über zusätzliche Kompetenzen verfüge und sich auf die hochkomplexen Fälle konzentrieren könne.

Dafür, dass sich gewisse Heimbetreiber als Opfer des Personalmangels sehen, hat Knüppel wenig Verständnis.

Altenpflegeeinrichtungen in Deutschland sind zunehmend in den Fokus internationaler Finanzinvestoren gerückt. Der Spielraum für Gewinne ist gross.

Laut dem Pflegeheim Rating Report 2017 erwirtschaftete ein durchschnittliches Heim 2015 ein Betriebsergebnis von 14 Prozent. Ein beträchtlicher Teil der Rendite, so Knüppel, werde dabei «auf dem Rücken der Beschäftigten» erzielt.

Tatsächlich wurden in der Vergangenheit in Pflegeheimen viele Stellen – aus wirtschaftlichen Gründen – abgebaut und weniger Pflegekräfte ausgebildet. Die Folge war eine fatale Abwärtsspirale: Durch die immer grössere Belastung der einzelnen Beschäftigten hat der Beruf stark an Attraktivität eingebüsst.

Menschen, die einmal mit grossem Idealismus diesen Beruf ergriffen haben, leiden sehr darunter, ihn nicht so ausüben zu können, wie sie es gelernt haben – und den Schicksalen der Patienten nicht gerecht zu werden.

Das Resultat: Viele Pflegende sind ausgebrannt, werden häufiger krank, wechseln den Beruf oder reduzieren ihre Arbeitszeit.

Zehntausende ausgebildete Pflegekräfte, schätzen Experten, haben den Beruf in den vergangenen Jahren verlassen. Dadurch wird die Not der verbliebenen Pflegekräfte noch grösser und der Beruf noch unattraktiver.

Schichtarbeit ist an sich schon belastend. Doch ein Grossteil der Pflegekräfte sammelt zudem noch massenhaft Überstunden an, springt aus der Freizeit ein – oft auch an Wochenenden – und kann die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen nicht nehmen.

Mit den Aufgaben in der Familie, Zeit mit Freunden oder Aktivitäten in Vereinen oder Organisationen ist das kaum vereinbar. Kein Wunder, dass Pflegekräfte deutlich häufiger und länger krank sind als Beschäftigte in anderen Berufen. Besonders stark sind sie von psychischen Erkrankungen betroffen.

Immer mehr Pflegekräfte greifen zu Suchtmitteln. Neben Alkohol und Cannabis gehören dazu oftmals auch verschreibungspflichtige Medikamente. Die sind für Pflegekräfte im Heim vergleichsweise leicht verfügbar: Sie machen einen Schrank auf und es steht ihnen alles zur Verfügung.

Hinzu kommt die schlechte Bezahlung. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verdienen Fachkräfte in der Altenpflege im Bundesdurchschnitt knapp 2877 Euro brutto im Monat, Hilfskräfte 2041 Euro – bei erheblichen Unterschieden von Bundesland zu Bundesland. Bei Fachkräften in der Altenpflege sind es in Sachsen-Anhalt nur 2329 Euro, in Baden-Württemberg 3169 Euro.

«Viele Auszubildende steigen schon im ersten Jahr aus, wenn sie die Arbeitsbedingungen miterleben», sagt Johanna Knüppel, Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe.

Die Gründe dafür kennt Sebastian Schneider nur zu gut. Vor einem Jahr hat er eine dreijährige Ausbildung zum examinierten Altenpfleger begonnen, die Teil eines dualen Pflege-Studiums an der Technischen Hochschule Deggendorf ist.

Zwar steht für Schneider fest, dass die Arbeit mit pflegebedürftigen älteren Menschen für ihn der richtige Job ist und dass er ihn dauerhaft ausüben will. Doch auch er hat erlebt, dass gute Pflege in manchen Heimen gar nicht möglich ist.

«In der ersten Pflegeeinrichtung, in der ich gearbeitet habe, war der Zeitdruck so gross, dass hilfebedürftige Bewohner nicht einmal korrekt gewaschen, sondern akkordmässig abgefertigt wurden», berichtet Schneider. Von Mobilisierung und Aktivierung der meist hochbetagten, gesundheitlich angeschlagenen Bewohner oder gar Zeit für ein freundliches Gespräch ganz zu schweigen. «Der ganze zwischenmenschliche Bereich blieb auf der Strecke.» 

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Dass es auch anders geht, stellte Schneider erst nach einem Wechsel zu einer anderen Einrichtung fest. Hier befand sich das Heim nicht in privater, sondern in kirchlicher Trägerschaft. «Das war ein Riesen-Unterschied. Hier gab es auf einmal wesentlich mehr Personal.»

Angefangen bei den Servicekräften für Frühstück und Küche über die Anzahl der Pflegefachkräfte pro Schicht bis hin zu Mitarbeitern, die speziell für die sinnvolle Beschäftigung der Bewohner zuständig sind. Ihm habe das deutlich gezeigt:

«Wenn man wirklich will, gibt es selbst in dem bestehenden System Möglichkeiten, die Bedingungen für das Personal und die Bewohner besser zu gestalten.»

Genau darin liegt womöglich auch die Lösung des Problems. Experten gehen davon aus, dass sich die massenhafte Flucht aus dem Pflegeberuf nur dann beheben lässt, wenn sich die Rahmenbedingungen deutlich verbessern: wenn die Bezahlung stimmt und die Arbeitsbelastung reduziert wird.

Wenn das gelingt, vermuten Fachleute, würden womöglich viele der Zehntausenden ausgebildeten Pflegekräfte wieder zurückkehren, die derzeit nicht in dem Beruf arbeiten. Sprich: So wie die Arbeitgeber den Notstand selbst erzeugt haben, können sie die Spirale am ehesten auch wieder umkehren.