Verletzung staatlicher Schutzpflichten - demenzjournal.com

Missstände in der Pflege

Verletzung staatlicher Schutzpflichten

In Pflegeeinrichtungen wird nicht genug hingeschaut. Mara Truog

2014 gingen beim Bundesverfassungsgericht drei Beschwerden ein. Der Vorwurf: Die Bundesrepublik billige Menschenrechtsverletzungen an Bewohnern in Pflegeheimen. Die Beschwerden wurden abgewiesen. Armin Rieger kämpft trotzdem weiter gegen Missstände in der Pflege.

Einer der Verfasser der Beschwerden war Armin Rieger1. Er ist Heimbetreiber in Augsburg und war bis 1995 «verdeckter Ermittler» bei der Kripo. Seine Recherchen zeigen auf: Personalmangel und Pflegemissstände sind Nutzen und Folgen einer gewinnorientierten, politisch ermöglichten Pflegeindustrie

«Es mangelte an genügend Essen, an Hygiene, an Personal», erinnert sich Armin Rieger. Als er im Jahr 2000 Heimleiter am «Haus Marie» in Augsburg wurde, waren die Pflegekräfte am Limit, der Ruf des Hauses trotz grosser Investitionen «phänomenal schlecht».

Mit dem Spürsinn des Drogenfahnders beginnt er die Recherche und gerät dabei mehr und mehr in Wut und Rebellion.

In der Pflegebranche bringe die Auslagerung von Dienstleistungen an externe Anbieter Millionenerlöse, sagt Rieger. Es handle sich meist um eigene Tochterunternehmen, die oft untertariflich zahlten und Küche, Wäscherei und Zimmerreinigung kostengünstiger übernähmen, sagt der Autor von «Der Pflege-Aufstand».

«Auch Wohlfahrtsverbände haben ein ausgeklügeltes System an Tochterunternehmen, die an ihren Namen nicht immer als wohltätig erkennbar sind.»

Armin Rieger

Seniorenheime mit 300 Betten zum Beispiel könnten mit Outsourcing 10 bis 15 Vollkräfte einsparen.

Armin Rieger

Armin Rieger, geboren 1958, war ursprünglich Polizist in Augsburg bevor er 1995 in die Immobilienbranche wechselte. Als Investor des Pflegeheims «Haus Marie» in Augsburg, einer Einrichtung für demenziell veränderte Menschen, übernahm er 2000 auch gleich dessen Geschäftsführung. Rieger war 2002 Mitinitiant des «Augsburger Pflegestammtisch» und dessen Nachfolgeorganisation «Pflegeforum». 2013 verweigerte er den Behörden den «Pflege-TÜV» am Haus Marie.

Rieger bemängelt, dass in den jährlichen Prüfungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen (MDK) und der Heimaufsicht (FQA)2 nur selten ein Personalabgleich zwischen fiktiv verhandeltem Pflegesatz und tatsächlicher Personalausstattung durchgeführt werde.

Nach diesem fiktivem Pflegesatz werde bezahlt, nicht aber geleistet. Im Jahr 2000 nämlich stellte ein MDK bei 18 von 22 Einrichtungen der stationären Altenhilfe bereits eine vertragswidrige Unterschreitung des Personalschlüssels in Pflege und Betreuung fest. Die Abweichungen reichten von mindestens drei bis mehr als zehn Vollkräfte pro Einrichtung.

Laut Pressestelle des MDK Bayern werde kein Personalabgleich mehr durchgeführt. Seit einigen Jahren ist die Prüfung der Personalausstattung ordnungsrechtliche Aufgabe der Kommunen und auch nicht bundesweit einheitlich.

Die FQA prüft zum Beispiel in der Stadt Würzburg die Personalsituation in den Pflegeeinrichtungen, dabei werden Personalplan (Ist-Zustand) und der in den Pflegesatzverhandlungen vereinbarte Personalschlüssel (Soll-Zustand) gegenübergestellt, so Claudia Lother von der Fachabteilung Presse, Kommunikation und LoB der Stadt Würzburg. Bei Abweichungen werde der Mangel im Prüfbericht mit der Bitte um Stellungnahme und Aufforderung zur Änderung festgehalten und die Einrichtung beraten.

Manche Betreiber, so Rieger, nutzten «unvorhersehbare» Personalengpässe oft länger für sich aus als nötig, indem sie zum Beispiel erst dann mit einer nachdrücklichen Suche nach neuen Fachkräften (auch mit sogenannten «Kopfprämien») begännen, wenn bereits gekündigt, der Zeitvertrag abgelaufen oder die schwangere Pflegekraft in Mutterschutz sei. 

Ein mit den Pflegekassen und Kommunen ausgehandelter Personaleinsatz könne so monatelang ohne Kürzung des Pflegesatzes unterschritten werden. Damit kommen die Betreiber ganz legal in den Genuss eines «Windfall-Profits» (unerwarteter Gewinn).

Der Gesetzgeber hat das Problem offensichtlich erkannt, doch soll eine Änderung von Personaluntergrenzen bis 1. Januar 2019 lediglich für Intensivstationen, Nachtdienste und andere für die Patientensicherheit besonders notwendige Bereiche an Krankenhäusern kommen.

Armin RiegerBild PD

Gleiche Bemühungen sind für Pflegeheime nicht bekannt. Gerade solche Untergrenzen könnten aber auch dazu führen, dass sie zur Norm werden. «Wenn sich das Ganze aber in grossen Heimen zum System entwickelt, spart man Millionen an Personalkosten auf dem Rücken der Pflegebedürftigen und der Pflegekräfte», sagt Rieger. Die Heimkosten aber bleiben für die Bewohner dieselben.

«Wenn ich dann noch pro Person pro Tag eine Zwischenmahlzeit einspare, sind das bei meinen 33 Bewohnern gerade mal 1200 Euro im Jahr. Bin ich aber Träger von 15’000 Betten, lohnt sich jeder gesparte Cent pro Bewohner pro Tag. Da sind wir gleich im Millionenbereich», so Rieger.

Mit den aktuellen Qualitätskriterien sei das heute kein Problem: Für die Qualitätsprüfung des MDK spiele es keine Rolle, wie das Essen schmecke oder aussehe. Das Kriterium sei bereits erfüllt, wenn der Speiseplan im richtigen Schriftgrad und auf Augenhöhe ausgehängt sei.

Tatsächlich prüft der MDK das Speisenangebot nur pro forma. «Vom gesetzlichen Prüfauftrag her ist es nicht möglich, strafrechtliche Verfehlungen zu erkennen», sagt Dr. med. Ottilie Randzio, Leiterin des MDK Bayern; auch sei der MDK keine «Pflegepolizei». Die FQA  prüft gegebenenfalls die Qualität der Speisen durch Probieren, Befragen und Beobachtung der Essenssituation, so Claudia Lother.

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Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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«Solche Kriterien sind nicht in der Lage, Missstände aufzudecken», sagt der Heimleiter. Das sei von den Machern aber so gewollt: Bei der Entwicklung waren diejenigen massgeblich beteiligt, die später geprüft werden sollten2.

Solange schlechte Pflege aber ein Qualitätssiegel wegen einer sehr guten Dokumentation erhalte und der Verbraucher damit eine gute Pflege suggeriert bekomme, seien die Transparenzberichte die «übelste Form der Verbrauchertäuschung» und ein «von der Politik legalisierter Betrug», so Rieger. 2013 verweigerte sein Heim daher die Mitwirkung bei der MDK-Prüfung.

Rieger fand bei seinen Buchrecherchen auch dubiose Verflechtungen von Pflegewirtschaft und Politik. Bis 2009 zum Beispiel war Daniel Bahr (FDP) Mitglied des Beirates der ERGO Versicherungsgruppe AG, dann 2011 bis 2013 war er jener Bundesgesundheitsminister, der den staatlich geförderten, privaten «Pflege-Bahr» einführte. Danach avancierte die Allianz-Versicherung zur grössten Anbieterin von Bahr-Policen, deren Manager Bahr 2014 wurde.

Oder Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD): Er sass bis 2013 im Aufsichtsrat der Rhön-Kliniken. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe ist seit 1997 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland und war bis 2009 deren Ratsmitglied.

35 Prozent der Bundestagsabgeordneten, so schätzt Rieger, seien Mitglied in Wohlfahrtsverbänden und durch diese gross geworden.

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Die Pflege im «Haus Marie» ist durch Riegers Engagement deutlich besser geworden. Dennoch räumt er ein: Für mehr Aktivierung und die Umsetzung der Expertenstandards in der Pflege, wie Toilettentraining, reichten die personellen und finanziellen Mittel oft nicht aus. Würde er die Bewohner sedieren statt aktivieren, für Rieger eine gesetzeswidrige Fixierung durch Medikamente, könnte er durch eine Höherstufung Mehreinnahmen generieren.

«Nur wenn immer mehr Menschen Zivilcourage zeigen und gegen schlechte Pflege kämpfen, kann sich etwas zum Besseren wenden.»

Armin Rieger

Rieger stellt fest: Pflegebedürftige können sich meist nicht mehr selbst wehren, die Angehörigen kommen oft erst zu einem Zeitpunkt, wenn sie selbst körperlich und psychisch schon am Ende sind und nach einem Heimplatz suchen, und die Pflegekräfte, die auf Skandale hinweisen, werden von den Kollegen als «Nestbeschmutzer» behandelt und müssten daraufhin meist ihren Arbeitsplatz verlassen.

«Und wenn dann doch ein Missstand angezeigt wird, wird dieser von den Strafverfolgungsbehörden eingestellt, zumindest werden mir überall aus der Republik solche Fälle geschildert.» Eine Grenze sei für ihn erreicht, wenn er die Menschenwürde zur Seite legen müsse, sagt Rieger.

2014 legt er Verfassungsbeschwerde ein: In der Pflege seien Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung und eine sichere und gute Pflege mit diesen Rahmenbedingungen nicht mehr zu gewährleisten. Auch wenn seine Beschwerde, wie einige andere auch, abgelehnt wurde.


1 Neben Rieger klagten Rechtsanwalt Alexander Frey (9.1.2014) und der Sozialverband VdK (8.11.2014).

2 Die MDK-Prüfkriterien wurden von den Spitzenverbänden der Pflegekassen, der Bundesgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und Vereinigungen der Träger der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene entwickelt (siehe § 80 SGB XI).