Die Katastrophe kündigt sich leise an - demenzjournal.com

Wolkenfische (2)

Die Katastrophe kündigt sich leise an

Ein Mann steht am Meer und sieht Wesen in den dunklen Wolken.

Susannas Mann Marc wollen die richtigen Begriffe nicht mehr einfallen. Symbolbild Dalle

Noch ist es nicht offiziell. Es gibt keine Diagnose. Doch die Anzeichen, dass Marc an Alzheimer erkrankt ist, häufen sich.

Die Katastrophe kündigt sich leise an. Das Sicher-Geglaubte fällt ohne Vorwarnung in dünnen Placken von uns: Die Stunden haben plötzlich hundert Minuten, zehn vor Drei wird fünfzehn Uhr neunzig –

Die Katastrophe kündigt sich leise an:

«Wie heißen diese großen Tiere im Wasser?»
«Walfische?»
«Nein! Diese großen Tiere …» (Du machst beschreibende Bewegungen.)
«Elefanten?»
«Ja, genau!»

Ich suche nach Gesetzmäßigkeiten: Es scheint mir, als ob das Vergessen der Wörter im Alter in umgekehrter Reihenfolge ihrer Aneignung in der Kindheit geschieht. Und es scheint, als überlebten die Bilder in uns länger als die Wörter, die wir ihnen geben.

Du findest die Treppe zur Dachterrasse nicht mehr. – Was darf ich sagen, und was sage ich nicht?

Lesen Sie Teil 1 des Blogs

Paar läuft am Strand entlang.

Wolkenfische (1)

Wenn ich dich sehe, bist du ein Anderer

2013 zeigten sich bei meinem Mann erste Symptome von Alzheimer. In diesem Blog begebe ich mich auf die Suche – nach ihm, nach … weiterlesen

Ich bin wieder in die Rolle der Lehrenden geraten, die mir so verhasst ist: Wir üben für die Prüfung der Fahrtauglichkeit mit Arbeitsblättern der dritten und vierten Klasse, mit Zifferblättern und Zeitangaben.

Auch unsere Prüfung beginnt hinter dem Tränenschleier, hinter dem du immer mehr verschwindest, mein Mann, mein Freund.

Und obwohl ich ein Unbehagen empfinde, ähnlich dem, das an mir nagt, wenn ich Zeichnungen als Dokumente des Verfalls sehe, die ein Maler von seiner sterbenden Geliebten machte, muss ich dieses Verschwinden mit meinen Worten malen, – in jedem Bild verändert.

Ich höre noch, wie unten im Erdgeschoß dein Stuhl knarrt, wenn du dich an deinen Laptop setzt. Doch wenige Tage später zeigt sich genau dort der Riss: Du kehrst vom Meer zurück und schließt die Eingangstür, und dann ist es still. – Gerade als ich über Edward Hoppers Bild ›verlassen – wirklich‹ lese.

Es ist nicht das Unglück, das die Schwere in der Stille mästet. Es ist die Stille, die sich wie eine Totendecke über das Unglück legt. Ich sitze an meinem Tisch, die rote Kerze ohne Flamme, und die Zeit versickert ins Altern. – 

Der Grat über deiner Augensenke
durchzieht meinen Zweifel
abgrundnah
Aus dir herausgefallen – aus mir
zerrt fern vom Einzigen
das Licht an Wimpern
– milchblind
Betet, betet, ihr Schatten

Sommer

Wenn die Decke, gewirkt aus dem Licht des Tages, mit dem Nachtlaken des Vergessens eingetauscht ist, und du dich im Schlaf bewegst, atme ich deinen Atem, dein Leben, das sich mit meinem vermischt, bis es sich wieder ausatmet, und wir allein daliegen.

Der dunkle Wagen

kommt näher

mit Tüchern verhangen

Ein Blick

durchs Fenster

wie dort –

leer

Das, was nicht da ist, erkenne ich in dieser Nacht an meiner Angst, den Kern meines Lebens nicht einmal zu streifen. All die ‹Hätte›, ‹Könnte›, ‹Sollte›, diese Konjunktive des Verpassten, dieses ‹Wäre› des Unmöglichen stehen gegen mich.

Und ich zürne dir, weil du alt bist, weil du alt geworden bist. Ich zürne dir, weil du mich allein lässt, weil du mich allein lassen wirst.

Ich zürne mir, weil ich mich verzweifeln lasse.

Und nach dieser Nacht, am Morgen, überfällt mich der Schrecken, weil du über deine Zeit hinaus schläfst.

Lies die Geschichte von Susanna und Marc

Demenz und Sinnhaftigkeit

»Alles, was geschieht, ist gut«

2013 zeigen sich erste Symptome. Doch Marc will davon nichts wissen. Seine Frau Susanna, Dichterin und Verlegerin, pflegt ihn zuhause, bis es nicht … weiterlesen

Herbst

Du sagst, du seist deprimiert, du habest keinen Schwung mehr und keine Freude. Du wüsstest nicht, was mit dir anfangen, wenn ich an meinem Schreibtisch säße.

Du sagst, dass du es hier auf der Insel nicht mehr aushältst, dass du hier eingehst, weil dir die Musik fehlt, die Konzerte, das Theater, die Stadt. – Meine Antwort darauf ist Schweigen …

(Dies ist eine der spärlichen Aussagen von dir, die ich mir notiert habe, bevor du krank wurdest. Und ich wälze mich heute noch in Scham, dass ich erst Worte von dir fand, als du mir ein Problem warst.)

Einmal liegst du mit gebrochenem Knöchel im Bett und dirigierst hinter dem Moskitonetz eine Beethoven-Symphonie, und ich erkenne von der anderen Seite des Vorhangs her, dass ich ein Bild von dir hatte.

(Fortsetzung folgt.)

Wolkenfische

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger


Wir bedanken uns herzlich bei Susanna Erlanger, dass sie uns in vertrauensvoller Weise ihre Zwiesprache mit ihrem Mann Marc zur Verfügung stellt.