Ludwig Hasler: «Wir müssen bereit sein, an einer Zukunft mitzuwirken, auch wenn es nicht mehr unsere sein wird.»
Tanja Gschwandl
Das ist der optimistische Titel des jüngsten Buches von Ludwig Hasler, dem vielleicht bekanntesten Philosophen und Publizisten der Schweiz, der auch gern redet. «Die Lizenz zum Vertrotteln» heisst ein Referat, das er zum Alter zu halten pflegt.
Ludwig Hasler meint das alles andere als spöttisch (seine eigene Mutter litt unter einer Demenz), eher als Ode an die höchste Würde des Alterns und dass man – er – auch irgendwann mal Schluss machen müsse mit dem «Klammern ans eitle Ich», komplex und spannend. Wir haben uns auf Dis-Kurs in eine Villa am Zürichsee begeben, ins frühherbstliche Zollikon an der Goldküste.
Das schöne Haus ist ein Glücksfall, Ludwig Hasler und seine Frau Franziska Schläpfer konnten es von der Vorbesitzerin übernehmen. Ein veritabler Park rundherum lässt in wenigen Minuten komplett vergessen, dass das Haus nahe einer Stadt steht.
Ludwig Hasler führt stolz durch den Garten, den seine Frau schon bevor sie dort wohnten mit Hingabe gepflegt hat und den sie jetzt beide, seit sie hier vor 30 Jahren eingezogen sind, perfektioniert haben. Büsche, Bäume, Stauden, Bienenhabitate, eine gewachsen Weinlaube, alles wie zufällig arrangiert und doch der Choreographie der Natur folgend.
Das ist alles nur im Kopf
Aber wir sind nicht hier, eigentlich, um über Pflanzen zu reden. Der Anlass ist das Buch von Ludwig Hasler. Er, der von sich sagt, er sei Redner von Beruf, hat mit «Für ein Alter, das noch was vor hat» dem Wunsch vieler Fans entsprochen, doch wieder etwas Nachlesbares von sich zu geben, nachdem andere Werke des Denkers und Autors bereits vergriffen sind.
Wenn ein anerkannter Philosoph schlaue Bücher schreibt, und praktisch auf jeder Seite Sätze formuliert, die man sich an die Wand nageln möchte, fragt man sich, ob so jemand wie er Tagebuch oder eine Agenda führt, um jeden sinnvollen Gedanken, jeden Geistesblitz, jede Erkenntnis, aufschlussreiche Begegnungen oder Fazite aus Diskussionen niederzuschreiben, damit er kein wertvolles Wort wieder vergisst.
Hasler blauäugelt erstaunt: «Nein. Ich habe auch nie ein Manuskript, wenn ich irgendwo eine Rede oder einen Vortrag halte.» Also hat der Mann alles im Kopf. Mit 75 Jahren keine Selbstverständlichkeit. Wie aber entsteht so ein Buch?
«Meine Arbeitsweise vergleiche ich mit Simultanschach», erklärt der studierte Philosoph und Physiker, «oben in meiner Arbeitswohnung liegen Stapel mit den Projekten für jeweils das nächste Vierteljahr. Jedes Thema hat einen A4-Platz, darauf türmen sich gesammelte Werke, Bücher, Zeitungen, Ausrisse, Notizen.»
«Es sind verschiedene Themen, an denen ich gleichzeitig arbeite. Die Idee oder besser die Aufforderung zum Buch kam erst anfangs Jahr.» Im Februar hatte er dann nichts Besonderes vor und entschied, innert sechs Wochen das gewünschte Buch zu produzieren.
Klingt höllisch effizient, Ludwig Hasler winkt jedoch ab, Effizienz führe zu Schmalbrüstigem, das Ergebnis würde linear, dünn, geistlos. «Innovative Einfälle bekommt man nicht geradeaus», verrät der Profi. Das Buch ist das Ergebnis von 40 Jahren Erfahrung in vielen Bereichen.
Das Alter dauert (zu) lange
Das Thema des neuen Werkes ist, wie der Titel verrät, das Altern. Seit Jahren referiert Ludwig Hasler auch an Alterskongressen, übertitelt schon mal provokativ mit «Die Lizenz zum Vertrotteln». So würde sonst niemand wagen, zu reden, sagt gelegentlich ein Veranstalter.
Haslers Grundhaltung entbehrt nicht einer unterdrückten Wut, aber das ist nur so ein Gefühl des Gegenübers. Er überlegt, wie er diplomatisch die Worte wählen soll, um richtig rüberzukommen.
«Wir haben ein Problem», beginnt er, «und das ist, dass das Alter heute sehr lange dauert. Im Gegensatz zu früher kommen die meisten von uns nicht müde und abgearbeitet aus dem Berufsleben.» Er hält kurz inne, betrachtet seine Hände und sagt: «Meine Mutter hatte mit 50 Jahren Gichthände, sie war abgearbeitet, müde.»
Hasler wuchs in Beromünster mit fünf Geschwistern auf, der Vater war Schreiner, er geht sogar soweit, sein Zuhause als bildungsfern zu bezeichnen. Am meisten geformt habe ihn, dass die Eltern in weiten Teilen Selbstversorger waren.
«Ich würde heute jedem Kind wünschen, die Erfahrung machen zu dürfen, die ich gemacht habe. Ich wurde mit acht Jahren zum Chef des familiären Kartoffelackers ernannt. Das hiess, ich war verantwortlich dafür, ob wir genug Kartoffeln hatten oder nicht. Das prägt und gibt einem die nötige Achtsamkeit im Leben.»
Eigene Kinder, denen er einen Kartoffelacker an die Hand hätte geben können, hat Hasler nicht. Leider, sagt er, aber dafür hat er vier wunderbare, die seine Frau mitgebracht hat und inzwischen auch sechs Enkelkinder.
Sinn muss man nicht suchen
Eine kurze Denkpause entsteht, dann feuert Ludwig Hasler einen denkwürdigen Satz nach dem anderen ab. Was wir denn mit den geschenkten Jahren nach unserer Pensionierung eigentlich gedenken, anfangen zu wollen? Man könne doch nicht 25 oder 30 Jahre Siesta machen.
Dass man im Spiel bleiben muss, das Altern sportlich betrachten sollte, in dem man der Athlet ist, der ständig im Spiel bleibt. Dass er mit dem «Schwurbelwort» Sinn Mühe habe, der Sinn läge doch direkt vor der Haustür. Wenn man weiter weg suche, habe man schon verloren.
Das Glück liegt nicht auf irgendeiner überfüllten Ferieninsel, sondern darin, die Nachbarn mal wieder auf ein Glas Wein einzuladen oder sich in der Gemeinde zu betätigen.
Er erzählt vom Seniorenrat seiner Gemeinde, die nicht nur einen lustigen Frühlingsausflug machen, sondern die Probleme in die Hand nehmen und sich gegenseitig helfen und die Politik beeinflussen.
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Pause. Gelegenheit, eine Frage einzuwerfen, die er durchaus erwartet hat: Kann man das Altern vorbereiten?
«Die Grundidee ist, sich nicht nur auf die eigenen Interessen zu fokussieren», redet Hasler. «Man hat Erfolg, wenn man den Blick weitet, das gilt auch für die Dinge, die man nach dem offiziellen Berufsleben tut. Vor allem ist es wichtig, sich auch immer wieder mit Jüngeren zu beschäftigen.»
Denken verlange Charakter, lautet der nächste merkwürdige Satz, man solle Wissen und Wirklichkeit kreativ miteinander verbinden. Und dann holt er noch zu einem Generalschlag aus: «Die Bildung muss Menschenbildung werden, nicht Stoffbildung. Mut, Frechheit, Leidenschaft, das sind die Dinge, die Charakter formen.»
Uff. Kinder, Schule, Bildung, Zukunft. Hat er Angst vor der eigenen? «Wenn mich niemand mehr will, dann gehe ich an die Schulen», sinniert er.
«Wir müssen bereit sein, an einer Zukunft mitzuwirken, auch wenn es nicht mehr unsere sein wird.»
Und das, das ist höchstwahrscheinlich die Essenz aller seiner schlauen Sätze.
Ludwig Hasler
Ludwig Hasler wollte eigentlich Zehnkämpfer werden, und Opernsänger. Singen, Musik und Sport waren seine Leidenschaften, das sportliche Thema sistierte er mit 20 Jahren. Er sei vital an Wissen interessiert gewesen, fand aber Studien per se ineffizient, es habe nur unbrauchbares Zeugs zum Lernen gegeben. Trotzdem hörte er Philosophie, Physik und Altgriechisch, finanzierte sich sein Studium als angelernter Heizungsmonteur.
Mit 25 war er Gymnasiallehrer, schrieb in den ersten zwei Jahren seines Lehrerdaseins seine Dissertation und mutierte zum hauptamtlichen Philosoph an den Universitäten von Zürich, Bern und St Gallen. Im Parallelleben arbeitete er als Journalist beim St. Galler Tagblatt und bei der Weltwoche. Philosophisch haben es ihm die Deutschen Realisten angetan, man merkt es in seiner Wortwahl. Sein Kommentar dazu, indem er einen Regierungsrat zitiert: «Der Hasler ist der einzige in der Schweiz, der gescheit reden kann und alle verstehen das.» Das lässt sich unterschreiben.
Dieser Beitrag erschien in der Oktober-Ausgabe 2019 von 50plus – Das Magazin für ein genussvolles Leben. Wir bedanken uns bei Kurt Aeschbacher und seinem Team für die Gelegenheit der Zweitverwertung.
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