Liebe Mama, du bist tapfer! - demenzjournal.com

Alzheimer und wir

Liebe Mama, du bist tapfer!

Liebe Mama, diese Karte hast du mir vor vielen Jahren geschickt und mir die Worte «Sei entschlossen und tapfer» mit auf den Weg gegeben. Bild Peggy Elfmann

Kürzlich berichtete mir mein Vater von den Herausforderungen, mit denen er und meine Mutter klarkommen müssen. Und doch endete er mit diesem Mut machenden Satz über Mama: «Sie ist tapfer». Liebe Mama, das bist du wirklich!

Vor ein paar Tagen hatte ich ein langes Gespräch mit Papa. Ich merke ja, wie anstrengend der Alltag für ihn mittlerweile oft ist; ab und zu erzählt er davon. Gerade die Pandemie hat für euch Belastungen mit sich gebracht und ich weiss, dass es oft nicht einfach war (und ist).

Papa und ich sprachen also mal ausführlich und in Ruhe und das war gut. Denn ich glaube, dass genau das für uns wichtig ist, um gemeinsam für dich da zu sein: sich immer wieder auszutauschen.

Ich mache mir viele Gedanken, wie ich euch helfen kann. Aber ich weiss, dass wir manchmal unterschiedliche Vorstellungen haben und deshalb manchmal ziemlich diskutieren.

Was mir von diesem Gespräch ganz besonders im Kopf bleibt, ist der Satz: «Sie ist tapfer».

Als Papa das sagte, nickte ich vorsichtig und sagte leise: «Ja, das ist sie». Ich war zunächst ein wenig überrascht, das muss ich zugeben. «tapfer» – das sage ich selten über dich.

Aber je mehr ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich von dem, was Papa gesagt hat. Ich wünschte, ich hätte dir das auch gesagt. Denn: Liebe Mama, du bist tapfer!

Als tapfer bezeichnen wir Helden, die sich mutig, kühn und unerschrocken für etwas einsetzen oder in ein Abenteuer wagen. Die Vorläufer des Begriffs «Tapferkeit» gehen übers Mittelalter bis in die Antike zurück, so sagt es mir Wikipedia – und damals waren es vor allem Ritter und Krieger, die als tapfer bezeichnet wurden.

Für mich hat Tapferkeit nichts mit Kämpfen zu tun, zumindest nicht im Sinne von Gewalt.

Tapfer sein, das heisst für mich vor allem: mutig zu sein und seinen Weg zu gehen.

Auch wenn dieser nicht einfach ist, weil man Hindernisse überwinden muss.

Aber genau das warst du damals, nach der Diagnose Alzheimer: tapfer. Du hast geweint und warst traurig, aber hast dann doch weiter einen Alltag und Normalität gelebt, warst joggen und spazieren und hast dich von dieser Krankheit nicht unterkriegen lassen.

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Vor einigen Jahren, als ich einmal in einer schwierigen Phase war, hast du mir einen Brief geschrieben. Die Worte «Sei entschlossen und tapfer» hattest du vorangestellt, wie als Wegweiser oder liebe Erinnerung für meinen Weg.

Ich habe diese Karte noch immer. Und wenn ich sie heute anschaue, denke ich, dass diese Worte wohl auch dein Wegweiser waren. Ich habe nicht vergessen, wie mutig du in deinem Leben warst.

Aber in den Jahren mit deiner Alzheimererkrankung ist das manchmal ausser Sicht geraten. Oft reden wir über das, was du nicht mehr kannst oder was zu Hause schwierig ist. Es geht um Herausforderungen und Probleme – und wir versuchen, Lösungen zu finden. Für dich.

Wir würden sie so gerne mit dir finden, aber das klappt nicht mehr. Seitdem du kaum noch sprichst, wird es immer schwerer, in deine Welt zu gelangen. Nähe spüren, das geht gut, aber gemeinsam organisatorische Dinge regeln, das müssen wir für dich regeln.

Demenz ist noch immer ein Tabu in unserer Gesellschaft. Vor allem aber ist es oft negativ besetzt.

Vielleicht liegt es das an unserer medizinisch-wissenschaftlichen Sichtweise? Denn eine Demenz – egal welche Form – geht mit Verlusten und Defiziten einher.

Das sind die Merkmale, die wir beschreiben und betonen, und dabei ist es egal, ob es sich um eine Fernsehsendung über Demenz dreht oder man über die eigene Mutter, den eigenen Vater spricht. Das Negative steht im Vordergrund.

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Menschen mit Demenz sind auf ihr soziales Umfeld angewiesen. Und je weiter die Krankheit voranschreitet, umso mehr.

Aber sind sie deshalb auch hilflos? Bist du hilflos? Nein, du bist stark – auch mit oder wegen der Demenz.

Als du vor nun bald zehn Jahren die Diagnose bekommen hast, war das für mich ein einziges Schreckgespenst. Angst, Scham und Traurigkeit waren omnipräsent. Doch dank dir habe ich auch gelernt, dass Demenz mehr ist.

Ja, natürlich, da sind viele Verluste, von Erinnerungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Doch neben all den Abschieden ist auch ein Neubeginn möglich. Liebe Mama, du hast dir diesen Weg nicht ausgesucht, aber du hast ihn angenommen und gehst ihn.

Du zeigst mir immer wieder, dass man auch mit dieser Krankheit schöne Momente leben kann.

Ich spüre bei dir eine Zufriedenheit, wenn du auf der Couch sitzt und in dir ruhst. Die Demenz hat dich frei gemacht von all den Erwartungen. Du hast Bedürfnisse, Ansprüche und Wünsche – und die gilt es zu sehen und zu unterstützen.

Dieser Perspektivwechsel weg vom hilflosen Menschen hin zu einer starken Person, der tut nicht nur mir und dir gut, sondern kann für uns alle eine Bereicherung sein. Denn Menschen mit Demenz sind mehr als die Demenz. Sie sind mal traurig, mal fröhlich, mal mutig, mal stark, mal schwach … Sie sind ganz normale Menschen.