Ein neues Jahr, ein neuer Vorsatz? Mmh, das machen viele Menschen. Sie nehmen sich zum Jahresanfang ein Motto vor oder schmieden konkrete Pläne. Ich habe das bislang nie gemacht. So ein Quatsch, habe ich meist gesagt. Dabei fand ich es eigentlich schon immer ganz cool, wenn man so eine Vision hat und sie mit anderen teilt.

Aber ich hatte meist Angst. Angst, dass ich meinem Motto nicht gerecht werde. Angst, dass ich meine Pläne und Erwartungen nicht erfülle. Ich habe mir viel zu oft Sorgen und Gedanken gemacht und mich an die Vergangenheit geklammert. Dabei tut es mir sehr gut, wenn ich mich mit meiner positiven Energie auf das Hier und Jetzt besinne.

So merkwürdig es klingen mag: Das habe ich auch dank deiner Alzheimer-Erkrankung gelernt, liebe Mama. Deshalb mein Vorsatz und Plan für dieses Jahr: lass uns den Moment leben und vorwärts schauen.

Was würde ich dafür geben, wenn ich diesen Brief nicht schreiben müsste, sondern wenn ich mit dir reden könnte. Aber wie all die anderen Briefe an dich, ersetzt auch dieser ein Mutter-Tochter-Gespräch, das ich so nie geführt habe und nie mehr führen werde.

Das neue Jahr ist noch jung und ich habe schon unzählige Mottos und Pläne für 2021 gelesen. Sie stammen alle nicht von mir. Sie klingen so mutig und selbstbewusst, voller Courage. Sie heissen Showtime, Durchstarten oder Wachstum.

Und ich stehe hier, ein wenig ehrfürchtig vor diesem noch frischen Jahr und fürchte mich ein wenig.

Wenn mich jemand fragt Und was ist dein Motto? und eine Antwort erwartet, kommt von mir nur Schweigen. Ich möchte gerne ein Motto haben, aber das fällt mir so verdammt schwer. Nicht, weil mir nichts einfallen würde.

Eigentlich fallen mir spontan einige Dinge ein, gerade auch nachdem ich meinen Jahresrückblick geschrieben habe. Aber ich habe Angst davor. Denn ich habe das noch nie gemacht. Mir einen Plan gemacht oder mir etwas Konkretes vorgenommen für ein neues Jahr.

Und noch viel weniger liegt es mir, so etwas in die Welt hinauszuposaunen. Ich habe zwar ganz konkrete Vorstellungen von dem, was ich gut finde und ja, ich habe hohe Erwartungen an mich. Aber sie mit anderen zu teilen macht mir Angst. Was, wenn ich meine Pläne nicht genau so umsetze, wie ich sie mir vorgestellt habe? Was, wenn das, was ich mir da überlegt habe, nicht funktioniert?

Werde ich am Ende versagen? Es ist ein Scheitern, wenn mein Plan nicht perfekt funktioniert. Ist es das? Scheitere ich dadurch wirklich? Oder ist das nicht einfach das Leben? Ich bin alt genug, um zu wissen, dass manche Dinge im Leben einfach anders laufen als geplant – und dass es wunderschön sein kann oder auch schrecklich. All das ist okay, denn … es ist das Leben!

Da sind nicht nur meine kindlichen Ängste, da ist auch die Vergangenheit. Mir fällt es oft schwer loszulassen, auch bei dir.

Tief im Inneren geht es mir wie Papa: Manchmal denke ich, dass deine Alzheimer-Krankheit nur ein schlechter Traum ist.

Und dass wir alle eines Tages aufwachen und du gesund bist und alles gut ist. Peggy! höre ich meine Freundin sagen, mit einem ernsten Unterton in der Stimme. Und ich weiss es selbst: Diese Krankheit ist so verdammt real ist und schreitet immer weiter voran.

Aber ich hänge an dir, so wie du mal warst. Du bist immer noch meine Mama und ich geniesse es, bei dir zu sein. Aber du bist eben nicht mehr die Mama, die ich mal hatte. Die, die sich für mich interessiert, die sich um mich sorgt und für mich da ist. Es ist schon lange andersherum … und doch hätte ich dich gern wieder.

Ich spreche oft vom Annehmen und Akzeptieren der Demenz, aber es fällt mir in vielen Momenten sehr schwer, denn eigentlich hätte ich dich am liebsten zurück.

Ich möchte deine Alzheimer-Krankheit nicht annehmen. Sie anzunehmen, das fühlt sich so an, als würde ich sie gut finden.

Und doch ist es wichtig, sie zu akzeptieren. Ich weiss, dieses Klammern an das Vergangene hilft weder dir noch mir. Es betrübt mich viel zu sehr und verhindert, dass ich die gemeinsame Zeit, die wir haben, gut nutze.

2021 möchte ich mir deshalb vor allem eines vornehmen: Nach vorn schauen. Mich auf das Hier und Jetzt besinnen und mit Mut in meine Zukunft gehen. Ja, ich werde meiner Trauer und meinen Gefühlen weiter Raum lassen, denn das brauche ich, aber nur trauern und traurig sein hilft ja weder dir noch mir. Liebe Mama, lass uns den Moment leben und nach vorn schauen!

Bild Peggy Elfmann

Nach vorn schauen mit Demenz – das mag auf den ersten Blick makaber klingen. Denn ganz vorne, also am Ende der Erkrankung, steht der Tod. Aber, das steht er ja bei jedem Menschen, ob nun mit Erkrankung oder gesund.

Muss ich auch sterben? hat meine kleine Tochter neulich gefragt und so gerne wie ich diese Frage verneint hätte, habe ich gesagt: Ja. Alle Menschen sterben einmal.

Nach vorn schauen bedeutet für mich nicht auf das Ende deiner Alzheimer-Erkrankung schauen, sondern voller Zuversicht in den nächsten Tag, die nächste Woche, den nächsten Monat zu gehen.

Und dabei hilft mir deine Demenz doch auch irgendwie. Das habe ich in den vergangenen Tagen wieder gemerkt. Du bist oft in deiner kleinen Anders-Welt, du nimmst nicht an unseren Gesprächen und Diskussionen teil, aber du wirkst doch sehr zufrieden. Du ruhst in dir und wirkst frei von all den Sorgen und Ängsten, denn du lebst wahrlich im Moment.

Als du damals die Diagnose Alzheimer-Demenz bekommen hast, war das für mich ein Schock und es fühlte sich an, als ob meine Welt unterginge. Ich dachte, es ist alles vorbei und die Zukunft wird nur voller Probleme und Sorgen sein. 

Aber du hast mir gezeigt, dass man auch mit Demenz weiter viele schöne Stunden haben kann. Dass du weiter die liebevolle Person bist, die ich du immer warst, dass du lächelst und lachst und dein Herz so gross ist wie immer. Denn du hast vollen Mutes nach vorn geschaut und dich nicht abschrecken lassen von dieser Diagnose. Du lebst die guten Momente wirklich aus tiefem Herzen.

Du bist mir ein Beispiel, ein Vorbild, immer noch und für immer und ewig.

Liebe Mama, lass uns den Moment leben und nach vorn schauen!

Deine Peggy