Mama braucht echte Nähe - demenzjournal.com

Alzheimer und wir

Mama braucht echte Nähe

Es war eine gute Entscheidung, Mama zu besuchen, auch wenn ich alles andere als entspannt war. Bild Peggy Elfmann

Alzheimer in Zeiten von Corona: Ohne echte Nähe geht es nicht. Aber nur mit Vorsichtsmassnahmen.

Die Zahl der Neuinfektionen mit dem neuen Coronavirus gehen zurück. Dazu kommen immer mehr Lockerungen: Viele Kinder gehen wieder in die Schule und den Kindergarten, Friseure und Geschäfte sind offen, Restaurants und Cafés ebenfalls. Was heißt das?

Schon lange grübele ich über die Frage, wann ich wieder zu meinen Eltern fahren und Mama sehen kann. Wann kann ich meinem Papa helfen, der in den vergangenen Wochen die Pflege und Betreuung von Mama alleine gemeistert hat?

Theoretisch möglich ist es ja, aber ist es auch gut? Oder gefährde ich meine Eltern damit? Das Virus ist ja immer noch da und eine Ansteckung möglich. Und ich weiß, dass meine Mama zu der Risikogruppe gehört.

Aber ganz ehrlich: Kontakthalten mit und einem Menschen mit fortgeschrittener Demenz aus der Ferne nahe sein zu können, das ist eine Illusion. Ich weiß, dass Mama Nähe braucht, und zwar echte Nähe. Und mein Papa auch.

Wie all die anderen pflegenden Angehörigen trägt er die Last alleine – und das funktioniert nicht auf Dauer. Über unseren zaghaften Weg und warum es so wichtig ist, sich an bestimmte Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen zu halten. 

Ich habe meine Mama schon besucht. Ich war ein ganzes Wochenende bei meinen Eltern.

Es war eine gute Entscheidung, auch wenn ich alles andere als entspannt war. Denn die Corona-Situation macht es einem ganz schön schwer. Mit dem Lockdown im März war für mich klar, dass ich meine Mama nicht besuche. Experten rieten davon ab, dass Enkel ihre Großeltern sehen. Denn das Risiko, dass die Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 eine schwerwiegenden, gar tödlichen Verlauf nimmt, ist für Menschen ab 50 Jahren erhöht. 

Ich wollte auf keinen Fall meine Mama gefährden. Ich wollte nicht, dass sie erkrankt, genauso wenig wie mein Papa, denn er ist Mamas Anker im Alltag. Also habe ich mich zurückgehalten, wollte weder alleine noch mit den Kindern fahren.

Kontakthalten in Zeiten von Corona

Wir probierten alternative Wege, um Kontakt zu halten. Meine Töchter malten Postkarten, ich schrieb Briefe und telefonierte häufiger mit meinem Papa. Ich habe sogar kleine Videos für Mama aufgenommen und mit den Kindern «In der Weihnachtsbäckerei» gesungen, weil wir uns einig waren, dass die Oma das bestimmt gut findet.

Ich habe Fotos per WhatsApp geschickt, wir haben Facetime probiert. Papa hat das Telefon immer auf laut gestellt, damit Mama unsere Stimmen hören konnte.

Aber ehrlich: es reichte nicht. Es funktionierte nicht. Mein Papa hatte Unterstützung beim Einkaufen, aber trotzdem fuhr er mit Mama ziemlich oft in den Supermarkt, obwohl er Angst hatte, wie das mit dem Tragen des Mund-Nasen-Schutzes werden würde. «Es ist ganz schön anstrengend», sagte er ein paar Mal. Und dann gefolgt von der Frage: «Das kann doch nicht so weitergehen.»

Ich spürte seine psychische Belastung. Müde von der Dauerbelastung als pflegender Angehöriger. Papas Telefonate wurden länger, ich glaube danach ging es ihm etwas besser. Aber was konnte ich aus der Ferne schon tun? Mamas Tagespflege hatte geschlossen, Papa war nun 24 Stunden, 7 Tage die Woche mit Mama alleine.

Ich hatte versucht, einen Pflegedienst zu finden, der einmal täglich kurz kommen könnte, aber nur Absagen erhalten: Überlastet, zu wenig Personal, keine Kapazitäten für Neukunden. Auch Mamas Tagespflege konnte nicht vor Ort unterstützen. Die Leiterin rief ein paar Mal bei Papa an. Sie hörte ihm zu und baute ihn ein wenig auf.

Ich hoffte, dass Papa mit seinem Humor und mit vielen Spaziergängen mit Mama durch diese Corona-Pandemie kommen würde. 

Dankbar war ich, dass meine Eltern zusammen waren. Dass meine Mama meinen Papa hat. Und mein Papa bei ihr sein kann – und nicht wie andere Menschen mit Demenz, die im Pflegeheim leben, nun keinen oder sehr eingeschränkten Kontakt mit ihren Lieben haben können (Ich weiß, dass diese Vorsorgemaßnahmen richtig sind und doch ist es schwer…) Ich hoffte, dass die beiden es gut schaffen würden.

Vielleicht können wir aus der Krise etwas mitnehmen.

Alzheimer und wir

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Ich arbeitete im Homeoffice mit drei Kindern. An manchen Tagen schaffte ich nicht viel, weil die Bedürfnisse der Kinder in dieser turbulenten, unsicheren Zeit einfach Vorrang hatten. An den anderen Tagen holte ich so viel möglich nach.

Dieses Virus löste auch bei mir eine Krise aus. Projekte, auf die ich mich so gefreut hatte, konnten nicht stattfinden. Ich war deprimiert und traurig. Und ich war sehr müde (und das bin ich immer noch). 

Ich spürte, dass mein Papa ähnlich kaputt war wie ich. Als pflegender Angehöriger trug er nun die alleinige Last. 

Aber ich konnte doch jetzt nicht einfach zu meinen Eltern fahren. «Was, wenn ich ihnen das Virus mitbringe, diese Frage stellte ich mir immer wieder. Ich hatte große Angst, dass meine Eltern sich anstecken und an Covid-19 erkranken. Und so blieb ich fern und hoffte, dass diese Corona-Krise bald vorübergehen würde. 

Viel lieber hätte ich sie umarmt

Aber ich vermisste meine Mama und fragte mich auch: Braucht sie uns jetzt nicht ganz besonders? Bei all den Telefonaten reagierte Mama nicht, was allerdings auch davor schon längst die Regel war. «Sie lächelt», sagte Papa, wenn ich ihr am Telefon etwas erzählte. «Sie freut sich», sagte Papa. Das zu hören freute mich natürlich auch, aber viel lieber hätte ich sie umarmt. 

Schon seit vielen Monaten dachte mein Papa darüber nach, im Haus zu renovieren. Mit einem Mal kamen die alten Pläne wieder auf. «Muss das jetzt sein?», dachte ich, als mein Bruder mir zum ersten Mal davon erzählte. Seine Frau und er kümmerten sich, fuhren zu meinen Eltern und organisierten Handwerker und kauften Möbel. Das wirbelte viel auf, aber irgendwie passierte auch etwas – und es brachte Papa Ablenkung.

«Soll ich auch kommen und helfen?», fragte ich mich. Klar, einerseits ist da dieses Coronavirus und die Infektionsgefahr. Aber andererseits war auch jenseits der praktischen Unterstützung klar: Ohne echte Nähe geht es nicht. Für niemanden – aber schon gar nicht für Menschen mit Alzheimer. 

Videotelefonate mögen für viele Großeltern und ihre Familien eine tolle Lösung sein, meine Mama versteht und sieht da nichts mehr. Sie kann kein Bild auf WhatsApp erkennen, sie kann mir am Telefon nichts sagen. Sie reagiert auf meine Stimme, aber Videotelefonate funktionierten nicht. Die beste Art, wie ich mit ihr, wie wir alle mit ihr kommunizieren können, ist über Körpersprache, über Streicheln und Lächeln, über Nähe und Füreinander dasein.

Wichtige Vorsichtsmassnahmen

«Aber das Virus!», hallte es in mir. Und dann machte ich meine eigene Risiko-Analyse. Ich arbeitete seit Wochen im Homeoffice, die beiden großen Kinder waren zu Hause und die Kleine ging erst seit kurzem für ein paar Stunden täglich in ihre kleine Notbetreuungsgruppe.

Ich verzichtete auf Kontakte zu anderen, und wenn ich draußen war, dann eigentlich nur zum Einkaufen, und das mit den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen, also Mund-Nasen-Schutz und Abstand halten. Wir drehten kleine oder große Runden mit dem Fahrrad, blieben als Familie unter uns und die Kinder spielten vorwiegend im Garten. «Abstand halten» kann auch die Kleinste mittlerweile und erklärt, dass es wegen Corona jetzt so ist. 

All die Basisregeln für den Alltag mit Corona waren längst Routine für mich geworden. Und diese Vorsichtsmaßnahmen sind wirklich wichtig,denn sie verringern eine rasche Ausbreitung des Virus, weshalb das Robert-Koch-Institut und andere Experten sie immer noch dringend empfehlen.

Zu den wichtigsten Regeln gehören: regelmäßig und gründlich Händewaschen, 1,50 Meter Abstand halten, Hygiene beim Niesen und Husten sowie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes.

Auf dem Weg zu den Eltern.Bild Peggy Elfmann

Und so entschied ich, zu meinen Eltern zu fahren. Ich fuhr alleine, um beim Umräumen und Streichen mit anpacken zu können. Ich fuhr auch alleine, weil mir das weniger riskant in Sachen Infektionsgefahr schien. Als Mama und Papa mich am Bahnhof abholten, trugen sie ihre Masken, so wie ich, denn im Zug und am Bahnhof ist das Pflicht.

«Was ist jetzt mit dem Abstand?», überlegte ich, als ich auf meine Eltern zuging. Darf ich Mama umarmen? Aber ganz ehrlich: Wie könnte ich zwei Meter vor meinen Eltern stehen bleiben und sie nicht in den Arm nehmen?

Ich umarmte Mama, ich umarmte Papa. Ich streichelte Mamas Wange. «Schön, dich zu sehen», sagte ich, lächelte sie an und sie strahlte zurück. Ich ging an diesem Wochenende auch auf Abstand.

Immer wieder wusch und desinfizierte ich meine Hände. Ich gab den Nachbarn und Bekannten nicht die Hand. Wir lüfteten viel und verbrachten viel Zeit draußen, das minimiert ja auch das Infektionsrisiko über Aerosol.

Aber: Ich nahm Mamas Hand und umarmte sie. Ich half ihr beim Essen und Trinken. Ich ging mit ihr am Arm die Stufen und Treppen hoch und runter, half ihr beim Zähneputzen und Waschen. Entspannt war ich nicht und gerade in diesen Situationen spürte ich ein mulmiges Gefühl in meinem Bauch.

Aber ich merkte auch: Ohne echte Nähe geht es bei Alzheimer einfach nicht, auch nicht in Zeiten von Corona. Die Vorsichtsmassnahmen sind deshalb umso wichtiger, besonders auch für mich als pflegende Angehörige.