Darf man Menschen mit Demenz anlügen?

Darf man das?

Wer einmal lügt …

Der französische Philosoph Voltaire meinte: «Lügen ist ein Laster, wenn man damit Schaden anrichtet, aber eine Tugend, wenn man damit nützt». Bild pixabay

Wenn mein demenzkranker Vater zur wöchentlichen Bewegungstherapie soll, weigert er sich, mitzukommen, obwohl es ihm eigentlich Spass macht. Deswegen sagen wir ihm, dass wir an einen «schönen Ort» gingen. Ist das schon eine Lüge?

Fragt man den berühmten Philosophen Immanuel Kant (1724-1804), besteht kein Zweifel: Unter gar keinen Umständen dürfen Sie Ihren Vater belügen – selbst wenn Sie etwas Gutes im Sinne haben, nämlich ihm Bewegung zu verschaffen.

Kant vertrat eine rigorose Auffassung: «Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein», hielt er in seinem Aufsatz «Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen» fest. Schliesslich untergrübe es die Grundlage unseres Zusammenlebens, könnten wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass das Wort unseres Gegenübers gilt.

Wie aber sieht es aus, wenn jemand im Dritten Reich Juden bei sich versteckt hielt und Nazischergen an die Tür klopften? Hätte der seine Mitmenschen der sicheren Vernichtung preisgeben sollen? Offenbar kommt es darauf an:

In manchen Fällen halten wir die Lüge intuitiv sogar für geboten, etwa wenn sich damit Menschen vor dem Tod bewahren lassen.

Bei der Bewegungstherapie Ihres Vaters steht freilich längst nicht so viel auf dem Spiel. Das Muster ähnelt sich gleichwohl, beabsichtigen Sie doch – ebenso wie die Retter der Juden – etwas Gutes.

Lügen wir, wägen wir mitunter zwischen zwei Übeln ab: Lieber schwindeln wir und loben das Abendessen, als die alte Tante zu kränken. Oder wir behaupten, es ginge uns gut, weil wir den Anderen nicht mit unseren Sorgen belasten wollen.

«Der Erfinder der Notlüge liebte den Frieden mehr als die Wahrheit», befand der irische Schriftsteller James Joyce. Doch selbst wenn wir des einträchtigen Miteinanders willen lügen, packt uns womöglich das schlechte Gewissen. Das achte Gebot – du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen – haben wir verinnerlicht.

Aber handelt es sich überhaupt um eine Lüge, wenn Sie Ihrem Vater sagen, Sie gingen an einen schönen Ort? Schliesslich sprechen Sie nichts Unwahres aus. Wohl führen Sie ihn in die Irre, täuschen ihn – aber lügen ihm nicht ins Gesicht.

Stellt man sich vor, auf einer Party spricht ein Gast eine entfernte Bekannte an und fragt sie, wie es bei der Arbeit denn laufe. Diejenige hat jüngst eine Zusage für ihren Traumjob erhalten, aber an der alten Stelle noch nicht gekündigt, weshalb sie antwortet, es laufe gut. Stimmt ja, besser ginge es gar nicht.

Doch weiss sie wohl, dass der Frager denkt, sie spräche von ihrem alten Job. Allerdings ist sie nicht verpflichtet, ihm über ihr Berufsleben Auskunft zu erteilen. Moralisch scheint nichts gegen die Irreführung zu sprechen.

«Etwas anderes ist es zu lügen, etwas anderes die Wahrheit zu sagen», hielt der Kirchenlehrer Augustinus fest. Mit der Idee einer reservatio mentalis, der «Mentalreservation», hebelten Augustinus und weitere Theologen das biblische Lügenverbot aus:

Ein geheimer, innerer Vorbehalt sei moralisch zulässig. Nicht die ganze Wahrheit zu sagen, wiegt demnach weniger schwer als die Lüge.

Aber stimmt das? Hat die Irreführung nicht ebenso wie die Lüge den Zweck, das Gegenüber etwas glauben zu machen, das nicht den Tatsachen entspricht? Und ist das nicht verwerflich?

Kommt darauf an, liesse sich hier erneut erwidern, und zwar unter Berufung auf den französischen Philosophen Voltaire, der meinte: «Lügen ist ein Laster, wenn man damit Schaden anrichtet, aber eine Tugend, wenn man damit nützt».

Also doch: Wer das Gute bezweckt, darf zur Lüge greifen. Was allerdings schadet, was nützt? Sie möchten, dass Ihr Vater sich bewegt, was seiner Gesundheit zuträglich ist – eine gute Sache.

Oder treibt Sie blosse Bequemlichkeit zur Täuschung und Ihnen fehlt die Lust, den Vater in mühsamer Diskussion vom Gang zur Bewegungstherapie zu überzeugen? So dass es Ihnen eher um Ihr Wohl als um das Seine ginge?

Denn wer uns anlügt, schadet uns mindestens in einer Hinsicht, weil er uns der Möglichkeit beschneidet, selbstbestimmt zu entscheiden – denn das kann nur, wer Kenntnis über die Realität hat. Und er setzt unserer Beziehung aufs Spiel, untergräbt er doch deren Grundlage: Vertrauen.

Wie verhält es sich also mit der Lüge? Es kommt darauf an – und so lässt sich beides begründen: Ihrem Vater die volle Wahrheit vorzuenthalten oder zu riskieren, dass er die Bewegungstherapie verweigert. Doch wenn wir uns für die Lüge entscheiden, mag uns – bei allen Bedenken – zweierlei leiten: der Wahrhaftigkeit nicht leichtfertig zu entsagen und sich Rechenschaft abzulegen, was man da tut.