«Hast du je Hilfe gebraucht?» - demenzjournal.com

Zuwendung

«Hast du je Hilfe gebraucht?»

Bei diesem Anblick wäre Esther Spinner sofort zu Hilfe geeilt: «Ich war eine Person mit einem Helfersyndrom, eine mit einem 'überstrengen, altruistischen Ideal der sozialen Hilfe', die selbst keine Hilfe annehmen kann und gerne hilft, weil sie so zu Anerkennung kommt.» Bild Mara Truog

Hilfe wird gegeben, angeboten oder verweigert. Hilfe wird angenommen oder abgelehnt. Angesichts schwerer Erkrankungen oder des Todes überfällt uns oft Hilflosigkeit. Esther Spinner denkt über Hilfe nach und entdeckt für sich neue Aspekte.

Ein einziges Mal in meinem Leben schrie ich um Hilfe, aiuto, rief ich, aiuto, hämmerte an die Tür, die sich nicht öffnen wollte, schrie, bis die Kellnerin kam, die verklemmte Tür aufriss und sich den unnötigen Lärm verbat. Mich hatte in der fensterlosen Toilette ein Schreck gepackt, für den ich mich im Nachhinein schämte.

Auch jetzt bin ich in Italien, sitze mit meiner Gefährtin am Tisch in unserem Häuschen und frage sie aus. Wann hast du Hilfe gebraucht? Hast du sie bekommen und angenommen?

Vor Jahren, erzählt sie, stürzte ich mit dem Velo über den Randstein, genau vor dem Jesuszentrum, das nahe meines Ateliers liegt. Eine Frau kam sofort auf mich zu, fragte, wo es wehtue und wie schlimm es sei. Ungefragt legte sie ihre Hände um mein schmerzendes Knie und begann zu beten: Hilf, lieber Herr Jesus. 

Ich war irritiert, abweisend zunächst, doch dann gab ich mich hin, nahm die Hilfe an.

Und das Erstaunliche war: Sie nützte. Ich fühlte mich viel besser, als die Frau ihre Hände löste und mit einem Gruss wegging.

Erst beim Erzählen kam meiner Lebensgefährtin in den Sinn, dass sie als Kind ebenfalls mit dem Velo gestürzt war und sich niemand um sie kümmerte. Die neuere Geschichte bot nun im Erinnern Hilfe und Heilung auch für die alte Geschichte.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Ich selbst bin eine professionelle Helferin, eine ehemalige Krankenschwester. Eine von denen, die das Buch von Wolfgang Schmidbauer1 ins Herz traf, damals, 1977. «Die hilflosen Helfer» hiess es und beschrieb einen Menschenschlag, der mir nicht besonders sympathisch war, zu dem ich mich aber offenbar zu zählen hatte.

Ich war eine Person mit einem Helfersyndrom, eine mit einem «überstrengen, altruistischen Ideal der sozialen Hilfe», die selbst keine Hilfe annehmen kann und gerne hilft, weil sie so zu Anerkennung kommt.

Ärzt:innen gehören in diese Kategorie, Krankenschwestern, Sozialarbeiter:innen oder Lehrer:innen. Ungeachtet der eigenen Gesundheit wird gearbeitet bis zur Erschöpfung, man vernachlässigt sich selbst ebenso wie die eigene Familie oder den Kreis der Freund:innen.

Auch Angehörige tappen in die Falle des Helfersyndroms, wenn sie meinen, sie müssten rund um die Uhr verfügbar sein.

Zudem kann die allzu aufdringliche Hilfe zur Entmündigung derer beitragen, denen geholfen werden soll.

Das Buch führte vermutlich dazu, dass ich mich von diesem strengen Ideal mehr und mehr abwandte. Und die Therapeutinnen, die ich später aufsuchte, halfen mir sicher dabei, mit mir selbst freundlicher umzugehen.

Ursula Eggli 1977, Herz im Korsett.Bild ursulaeggli.ch

Von Freundinnen lernte ich viel über das Helfen, insbesondere von der Schriftstellerin Ursula Eggli2, die schwerstbehindert war durch Muskelschwund. Immer wieder neu musste sie sich anpassen, immer weniger war möglich. Ihren Elektrorollstuhl steuerte sie zuletzt mit einem einzigen Finger.

Nicht auszudenken, wenn ihr die Hand von der Armlehne fiele, unweigerlich würde der Rollstuhl stehen bleiben. Dennoch fuhr sie von ihrem Wohnort zum nahen Bahnhof, um mich abzuholen.

Ihr Vertrauen bewunderte ich ebenso wie ihren Mut, allein zu wohnen. Natürlich kam ihre Assistentin und tat dass Nötige, doch viele Stunden war Ursula Eggli allein, auch die ganze Nacht.

Ursula Eggli war es gewohnt, Hilfe anzunehmen. Als Kind war sie im Leiterwagen zur Schule gezogen worden. Später, als ihre Kräfte immer mehr abnahmen, brauchte sie entsprechend mehr an Unterstützung. Sie gab präzise Anweisungen, was getan werden sollte.

Ein Zuviel an Hilfe wollte sie nicht, was ihr möglich war, wollte sie selbst tun. So hatte ich ihr die Tasse in die Hand zu geben, dann den Arm zu stützen, damit sie ihre Schlucke selbst steuern konnte. Bei einem späteren Besuch musste ich ihr die Tasse an die Lippen halten.

Wenn ich mich richtig erinnere, sagte sie nicht bei jeder Handreichung Danke oder Bitte. Ihr Dank kam am Schluss des Besuches und war voller Wärme.

Mir fällt es immer noch nicht leicht, Hilfe anzunehmen. Doch als ich letztes Jahr unter heftigen Schwindelanfällen litt, blieb mir nichts anderes übrig.

Oft wurde ich von meinen Nachbarinnen gefragt: Was brauchst du? Was kann ich für dich tun? Dank dieser Fragen gelang es mir besser, Hilfe zu akzeptieren. Aus Angst vor der Wiederkehr dieses Schwindels wage ich es vorläufig nicht mehr, allein in meinem Häuschen in Italien zu sein.

Obwohl mir sicher auch da geholfen würde. Die Nachbarin hat immer ein Auge darauf, ob ich morgens die Läden öffne, sicher würde auch jemand mein Rufen hören. Nur will ich es nicht darauf ankommen lassen.

Damals, als meine Mutter in der Küche stürzte, hörte niemand ihr Rufen. Der Rotkreuz-Notruf war an ihrem Telefon neben dem Bett installiert, als Uhr oder an einer Kette wollte sie ihn nicht tragen. Zwei Stunden dauerte ihr Kriechen von der Küche bis ins Schlafzimmer, wo sie, endlich beimTelefon angelangt, nicht den Notruf anrief, sondern meine Schwester.

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Diese fand unsere Mutter bleich und schweissnass an den Schrank gelehnt. Nun musste sie Hilfe annehmen, was ihr gar nicht behagte, denn die Hauspflegerin von der Spitex machte alles verkehrt und die Pflegefachfrau wollte sie vom Nichtrauchen überzeugen. Sobald es ging, übernahm meine Mutter wieder ihre Haushaltung, inklusive der vollen Aschenbecher.

Jahre später, als ihr der Atem fehlte, musste sie ins Pflegeheim. Zweimal pro Woche besuchte ich sie, zweimal pro Woche setzten wir uns in ihrem kleinen Zimmer an das Tischchen und spielten Scrabble, ein Spiel, das zu unserer Familie gehörte.

Der Nachmittag verging, die Ängste blieben fern, während wir nach passenden Wörtern suchten, nach Wörtern, mit denen sich eine möglichst hohe Punktzahl erzielen liess.

Die Punkte schrieb Mutter in ihrer akkuraten, immer kleiner werdenden Handschrift auf und zählte sie anschliessend zusammen. Ab und zu verrechnete sie sich, was sie ärgerte, ab und zu fragte sie: Stimmt das so?

Jetzt, im Gespräch mit meiner Lebensgefährtin, erkenne ich, dass nicht nur mein Besuch, sondern auch das Spielen eine Hilfe war, eine Hilfe für uns beide. Meine Mutter dachte zwei Stunden lang nicht an ihren Atem, fragte nie, ob noch genügend Sauerstoff in der Flasche sei. Und ich dachte zwei Stunden lang nicht an ihren nahen Tod.

Das Spielen half mir, meine eigene Hilflosigkeit, meine Machtlosigkeit angesichts ihres Sterbens auszuhalten. Es war keine entmündigende Hilfe, sondern eine, die ihr und mir Freude brachte und Ablenkung, eine gegenseitige Hilfe voller Zuwendung.


1Wolfgang Schmidbauer: Die hilflosen Helfer. Erstveröffentlichung 1977, Neuauflage rororo, Reinbek bei Hamburg, 1992.
2Ursula Eggli: Herz im Korsett, Zytglogge Verlag Gümligen 1977, Zytglogge Taschenbuch 1986.