So viel Energie - demenzjournal.com

Dritte Lebensphase

So viel Energie

Körperliche Einschränkungen verändern den Schaffensprozess. So benutzt eine Malerin die Hände, weil sie den Pinsel nicht mehr halten kann, ein Bildhauer, der früher riesige Figuren konstruierte, hat sich auf kleine Figürchen eingelassen. Bild pixabay

Manchmal werden alte Menschen diskriminiert, manchmal diskriminieren sie sich selbst. Aber es gelingt ihnen auch, ihr Leben den Möglichkeiten anzupassen und damit der Diskriminierung ein Schnippchen zu schlagen. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten in der dritten Lebensphase.

Meine Mutter steht vor dem Spiegel und zupft an ihrer Bluse. Eigentlich, sagt sie fragend, eigentlich sehe ich nicht schlecht aus. Meine Mutter ist 73 Jahre alt, so alt wie ich heute bin.

Damals, als ich neben ihr stand, mich mit ihr im Spiegel betrachtete, war ich 45. Wieso muss sie noch gut aussehen, dachte ich, was soll das? Schliesslich ist sie eine alte Frau. Ich reagierte nicht auf ihre zögerliche Feststellung, wandte mich ab.

Heute, wenn ich meine Augenbrauen nachziehe, denke ich an sie. Ich finde, dass ich «eigentlich nicht schlecht aussehe». Heute, mit 73 Jahren. Es tut mir leid, dass ich sie damals nicht einfach bestätigte: Ja, Mama, du siehst gut aus, erstaunlich wenig Falten hast du. Ich tat es nicht.

Mir schien, dass eine alte Frau nicht mehr gut aussehen müsse. Mein Altersbild war eindeutig diskriminierend. Ich reduzierte meine Mutter auf ihr Alter und sprach ihr bestimmte Wünsche und Vorstellungen ab.

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Eine Schlagzeile im Zürcher Tagesanzeiger springt mich an: Mit dieser Sonnenbrille sehen sie nicht alt aus. Folglich, schliesse ich aus diesem Satz, ist Altaussehen nicht erwünscht. Und bei der Kolumnistin der Coopzeitung1 lese ich, dass man erst alt ist, wenn man sich nicht mehr hinterfragt und/oder weiterentwickelt.

Wie ist dieser Satz zu verstehen? Sich hinterfragen oder sich weiterentwickeln gelten als positive Eigenschaften, die offenbar nicht mit Altsein zusammen gedacht werden können? Ich aber nehme gerade diese Eigenschaften für mich in Anspruch, und das in meinem Alter.

Hinter dieser Aussage steht ein starres, unbewegliches Altersbild, dem ich nicht zustimmen kann.

Viele meiner Freundinnen und Freunde nehmen Teil am aktuellen Geschehen. Wir diskutieren über den Genderstern genau so wie über die politische Situation oder über eben erschienene Bücher.

Doch es dauert seine Zeit, bis die richtige Brille gefunden ist, um den Fahrplan zu studieren oder die Menukarte. Wir sind langsamer geworden durch verschiedene Einschränkungen, aber im Geiste beweglich geblieben. Einverstanden, nicht alle alten Menschen sind es – genau so wenig wie alle jungen.

Diskriminierung bedeutet laut Amnesty Schweiz die grobe Verletzung der Menschenrechte aufgrund individueller oder gruppenspezifischer Merkmale. Als Synonyme gibt das Wörterbuch an: Benachteiligung, Demütigung, Entehrung, Entwürdigung, Erniedrigung. Ausgdrückt wird Diskminierung durch Beleidigungen, durch Schimpf und Schmähung oder Affront.

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Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Diskriminierung zeigt sich im Alltag durch Blicke, durch gemurmelte oder lautstarke Beschimpfungen. Wobei auch die Alten selbst nicht frei davon sind, andere alte Menschen zu diskriminieren. Auch mir passiert es, dass ich denke, die Frau mit dem Einkaufswagen könnte jetzt doch etwas schneller aus dem Tram steigen.

Doch dann besinne ich mich. Wozu hetzen? Soll sie sich doch die Zeit nehmen, die sie braucht, um sich sicher zu fühlen. Oft aber schaue ich alte Menschen sehr bewusst an.

Gerade, weil wir nicht oder weniger wahrgenommen werden, ist es wichtig, einander zu sehen. Das gegenseitige einander Zulächeln macht uns sichtbar. Gestärkt gehen wir weiter.

In seinem Film «Gute Tage»zeigt der Schweizer Dokumentarfilmer Urs Graf die Veränderungen im Alter. Er porträtiert fünf künstlerisch tätige Menschen, die durch das Altern und Krankheiten gezwungen werden, sich in ihrem Leben und Schaffen neu einzurichten.

Die körperlichen Einschränkungen verändern den Schaffensprozess, behindern und bereichern ihn. Neues entsteht, das früher nicht in Betracht gezogen wurde. So benutzt eine Malerin die Hände, weil sie den Pinsel nicht mehr halten kann, ein Bildhauer, der früher riesige Figuren konstruierte, hat sich auf kleine Figürchen eingelassen.

Mich hat der Film angeregt, auch in meinem Leben, in meinem Alltag den Blick auf Veränderungen zu richten. Was ist – noch – möglich? Was gibt es auszuprobieren? Wo steht eine Veränderung an? Nicht nur in der Kunst geht es darum, auch im ganz gewöhnlichen Alltag. Soll die Küche etwas praktischer eingerichtet werden? Brauche ich eine Trittleiter, um Regale zu erreichen, die eines Tages zu hoch sein werden? Soll ich mir eine gute Lupe kaufen?

In die erste Fassung dieses Textes schlich sich haufenweise das Wort noch ein, das mir meine Lebensgefährtin beim Gegenlesen jeweils anstrich. Sie hat recht. Noch ist eines jener kleinen Wörter, die viel nach sich ziehen. Noch deutet in die Zukunft: Jetzt kann ich noch dies und jenes, aber, leise drohend: bald vielleicht schon nicht mehr.

Es zeigt, dass mein Altersblick auf zukünftige Defizite ausgerichtet ist. Das noch tritt häufig gemeinsam mit dem nur auf. Die beiden unscheinbaren Wörtchen bewerten Aussagen, die nicht bewertet werden müssten. Ich kann noch zwei Stunden am Stück gehen. Oder: Ich kann nur zwei Stunden gehen. Beide Sätze klingen anders als die schlichte Aussage: Ich kann zwei Stunden am Stück gehen.

Sich den auf Defizite ausgerichtete Blick auf das Altern abzugewöhnen, ist nicht einfach.

Ein Artikel im Tagesanzeiger3 weist darauf hin, dass der defizitäre Blick nicht die Realität abbildet. Die geistigen Fähigkeiten, so lese ich, würden erstaunlich stabil bleiben. Die Aussetzer, Vergesslichkeit und Verwechslungen würden überbewertet.

Alte Menschen seien vielleicht weniger schnell, dies mache jedoch die Erfahrung wett. Die Forschung konzentriere sich auf die Unterschiede zwischen Jung und Alt, und nicht darauf, was trotz Alterungsprozess erhalten bleibe. Das präge die öffentliche Wahrnehmung. Offenbar prägt es auch meine eigene. Dabei ist im Alter vieles möglich, sogar Präsident der Vereinigten Staaten zu werden.

Auch die Autorin Hanna Gagel berichtet von der Schaffenskraft des Alters. In ihrem Buch So viel Energie – Künstlerinnen in der dritten Lebensphase4 porträtiert sie 16 Künstlerinnen, die einen grossen Teil ihres Werkes im höheren Alter schufen.

Sie berichtet von Helen Dahm, die erst mit 75 wirklich Anerkennung fand und mit 76 den Kunstpreis der Stadt Zürich erhielt. Sie arbeitete bis zu ihrem Tod mit fast 90 Jahren. In einem Radiointerview sagte sie 78-jährig: Ein grosses Geschenk ist es, alt werden zu dürfen.

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Ja, es ist ein Geschenk. Auch wenn nicht alle Tage gute Tage sind: Es gibt sie, die Tage, an denen Begegnungen möglich sind, lustvolles Lesen, Spaziergänge. Oder Schreiben. Meine Konzentration reicht für eine gute Stunde. Und diese Stunde kann ich nutzen als Schriftstellerin in der dritten Lebensphase.

Wenn es mir gelingt, das zu tun, was ich möchte und kann, gelingt es mir auch, über allfällige Diskriminierungen hinweg zu sehen. Nicht, dass ich sie toll finde – aber ich lasse mich von ihnen nicht entmutigen. Lieber halte ich mich an den Satz der Schriftstellerin Ilse Aichinger: Es wäre vielleicht gut, kichernd zu altern, so, wie man kichernd gross wird.5


1Silvia Aeschbacher: Die Kunst des Älterwerdens, Coopzeitung vom 27. Juli 2021
2Urs Graf: Gute Tage. DVD zu bestellen bei www.looknow.ch oder www.urs-graf.ch
3Sandro Benini: Menschen in hohem Alter – das Biden-Paradox. Tagesanzeiger Zürich, 10.Juli 2021
4Hanna Gagl: So viel Energie. Künstlerinnen in der dritten Lebensphase. Aviva Verlag Berlin, 2007/2008
5Zitiert in: Ingeborg Gleichauf: So viel Fantasie. Schriftstellerinnen in der dritten Lebensphase. AvivA Verlag, Berlin, 2015