Wie sehr kann man seinen Tod planen?

Palliative Care

Stress mit dem Sterben nach Plan

Die Verfasser von Sterberatgebern bemühen zu gerne das Bild der Sterbenden, die genau so starb, wie sie ihr Leben führte. Und Sterbehilfeorganisationen propagieren die Selbstbestimmung als höchstes Gut. Pixabay

Den Tod gestalten: Manche verfassen eine Patientenverfügung, andere organisieren ihren letzten Tag bis ins Detail, um mit Exit aus dem Leben zu scheiden. Man könnte den Tod auch verdrängen oder die Dinge auf sich zukommen lassen.

Schon eine Patientenverfügung aufgesetzt? Sich um die Mitgliedschaft in einem Sterbehilfeverein gekümmert? Mit dem eigenen Tod beschäftigt? Der Weg zu einem guten Sterben wäre damit geebnet.

Dieser Eindruck lässt sich gewinnen, wenn man Palliativmedizinerinnen in Talkshows lauscht, die Verlautbarungen von Sterbehilfeorganisationen liest oder in einer Buchhandlung in einem der zahllosen Sterberatgeber schmökert.

Das Sterben will heute offenbar geplant sein, damit es gelingt. Mindestens sollte sich rechtzeitig mit seinem Ableben auseinandersetzen, wer gut zu sterben wünscht. Um so aus dem Leben zu scheiden, wie es ihm entspricht. Immer noch ganz er selbst, hoffentlich bis zum Schluss – von allen Unwägbarkeiten einmal abgesehen, die einem unter Umständen einen Strich durch die Rechnung machen. Ein authentisches Sterben soll es sein.

Zu allen Zeiten kursierten Sterbeideale, Vorstellungen davon, was ein gutes Sterben ausmacht.

Im Spätmittelalter etwa orientierten sich Menschen an der Ars Moriendi, einer Sterbekunst, die dazu anleitete, die Seele auf den Tod und die Begegnung mit ihrem Schöpfer vorzubereiten.

Im 20. Jahrhundert dann, bis vor dreissig, vierzig Jahren, verschwiegen Ärzte ihren Patienten oft die infauste Prognose, weil sie annahmen, die unheilbar Kranken damit unnötig zu beunruhigen.

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Allmählich gewann jedoch die Hospizbewegung an Einfluss, die Palliativversorgung verbreitete sich – und damit auch die Auffassung, den Sterbenden tue es gut, sich ihren nahenden Tod bewusst zu machen.

Etwa zur selben Zeit setzte sich die Meinung durch, dass es nicht angehe, über den Kopf eines Kranken hinweg seine Behandlung festzulegen, vielmehr gehöre seine Autonomie respektiert.

Dieses Arguments bediente sich fortan auch die Sterbehilfebewegung, um zu begründen, weshalb es allein dem Individuum obliege, darüber zu befinden, ob sich das Weiterleben noch lohnt oder aber es seinen Tod zu beschleunigen wünscht.

Derweil besteht Einigkeit: Was ein gutes Sterben für den Einzelnen ausmacht, weiss er selbst am Besten.

Manch eine zieht es vor, das Angebot der Palliative Care zu nutzen und sich aus dem umfassenden bio-psychosozial-spirituellen Programm eine individuell passende Versorgung zusammenzustellen. Damit das Dasein bis zuletzt möglichst den eigenen Vorstellungen dessen genügt, wie es sich gut lebt – denn das versprechen Palliativversorger: die Verbesserung der Lebensqualität.

Andere wählen die Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation, um ihrem Leben durch Suizid ein Ende zu setzen. Selbstbestimmung lautet das Schlagwort, mit dem die Vereine werben: Wer zeitlebens auf seine Autonomie und Unabhängigkeit pochte, findet im Tod aus eigener Hand den zu ihm passenden Weg des Ablebens.

So sehr sich Palliativversorgung und Sterbehilfebewegung unterscheiden, teilen sie doch ein Anliegen: jedermann zu ermöglichen, so zu sterben, wie es ihm persönlich zusagt.

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Ein Sterbeideal, das zur heutigen Zeit passt, schliesslich dürften wir darin einiggehen, in unserem Leben zum Ausdruck bringen zu wollen, wer wir sind und was uns etwas bedeutet – warum also nicht ebenso in unserer letzten Lebensphase? So plausibel das Leitbild eines guten, weil individuell zugeschnittenen Abschieds vom Leben zunächst klingen mag, lassen sich Zweifel anmelden, wie hilfreich es ist, sich daran zu orientieren.

Obgleich sowohl die Hospiz- und Palliativbewegung als auch die Sterbehilfeorganisationen anfangs dafür kämpften, dass Sterbende ihr Lebensende so gestalten durften, wie sie es wünschten, droht sich mittlerweile in sein Gegenteil zu verkehren, was sie versprechen:

Die Freiheit, auch im Sterben man selbst zu bleiben, verwandelt sich in paradoxer Weise in einen Zwang.

Und zwar den Zwang, bis zuletzt die eigene Authentizität demonstrieren zu müssen. Wer sich in die Hände von Palliativversorgern begibt, bekommt es mit deren Sterbeideal zu tun, wenn sie Auskunft über seinen bio-psychosozial-spirituellen Bedarf erbitten. Denn darin steckt die Aufforderung, als Regisseur des eigenen Sterbens aufzutreten und sein Lebensende zu gestalten wie ein Projekt.

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Zwar lässt sich das Angebot ausschlagen, aber dann läuft man Gefahr, als schwieriger Patient zu gelten. Vielen von uns blüht zudem, einmal eine Entscheidung über das eigene Ableben treffen zu müssen, da in nahezu 60 Prozent der Fälle die Menschen in der Schweiz erst nach einem ausdrücklichen Votum sterben, etwa lebenserhaltende Massnahmen abzubrechen.

Als Instrument, den mutmasslichen Willen bezüglich des Sterbens zu ermitteln, kommen zunehmend Patientenverfügungen zum Einsatz. Sollte die Vorausverfügung Verwendung finden, entgehen Angehörige ebenso wie das Behandlungspersonal der Last einer Entscheidung.

Wie es überhaupt den Weiterlebenden hilft, wenn sie dem Geschehen einen Sinn abringen können, weil immerhin die Wünsche des Sterbenden Gehör finden. Kurzum, niemand stirbt für sich allein. Und niemand entzieht sich ohne Weiteres verbreiteten Anschauungen, wie zu sterben gut ist.

Dem populären Sterbeideal genügt, wer zweierlei bewerkstelligt: sein Sterben zu gestalten und dies in einer Weise zu tun, die zu seinem bisherigen Leben passt.

Die Autoren von Sterberatgebern bemühen zu gerne das Bild der Sterbenden, die genau so starb, wie sie ihr Leben führte. Und Sterbehilfeorganisationen propagieren Selbstbestimmung als höchstes Gut, weil wir zutiefst verinnerlicht hätten, selbst über uns zu verfügen, nachdem wir das zeitlebens taten.

Entsprechend gilt es, das eigene Sterben in Angriff zu nehmen: Die Patientin aktualisiert die eigene Identität, indem sie auf das Angebot der Palliative Care zurückgreift, der Suizident artikuliert sein selbstbestimmtes Ich in der Planung des eigenen Ablebens.

Von dem versprochenen Respekt vor der Individualität des Sterbenden bleibt damit nicht viel übrig. Erfahrungen wie die Geburt eines Kindes oder eine schwere Krankheit können einen Menschen verändern.

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Mit der Vorstellung an eine unheilbar kranke Person heranzutreten, sie möge nun sterben, wie es ihrem bisherigen Leben entspreche, kann dazu führen, ihre eigentlichen Belange zu übersehen.

Von ihr zu verlangen, ihr Sterben zu planen, erst recht: Wer vorzieht, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, seinen Angehörigen etwaige Entscheidungen zu überlassen oder über den nahenden Tod nicht einmal zu reden, sondern ihn bis zuletzt zu verdrängen, bringt die Palliativversorgung an ihre Grenzen und setzt sich gänzlich über den Leitgedanken der Sterbehilfebewegung hinweg. Und er stirbt im Widerspruch zu deren geteilter Idee eines guten Sterbens.

Nun lässt sich streiten, inwieweit Leitbilder Druck oder gar Zwang auszuüben vermögen. Wer Sterberatgeber schreibt oder Werbefilme für den assistierten Suizid dreht, will jedenfalls seine Auffassung des gelingenden Sterbens an den Mann bringen. Niemand muss sich ihnen anschliessen, dennoch setzen sich ihre Ideen in den Köpfen fest: So geht Sterben.

Ebenso verhält es sich mit den Geschichten Sterbender in den Medien. Da schildert ein Sohn, wie friedlich es ihn anmutete, als die Mutter das Sterbemittel schluckte und sanft entschlief. Oder eine Reporterin begleitet einen Mann in seinen letzten Tagen im Hospiz, wo sich alle liebevoll um ihn kümmern.

Fehlen traditionelle Umgangsweisen mit dem Tod, bedarf es solcher Erzählungen, die Vorbilder im Sterben präsentieren.

Doch können sie die Wahrnehmung befördern, so müsse man es machen, wenn es eines Tages so weit sei.

Niemand bekommt Fesseln angelegt, der Zwang bleibt relativ sanft. Doch wegreden lassen sich derlei Einflüsse nicht. Was folgt? Kein Aufruf zur Abschaffung der Palliative Care oder der Sterbehilfeorganisationen – eher zur Besinnung, um stets aufs Neue einzuholen, was die Pioniere der Sterbeverbesserung einst bewegte: ein Freiheitsideal.

Buchtipp 

→ Nina Streeck, Jedem seinen eigenen Tod. Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende.

Erschienen im Campus Verlag, Frankfurt 2020.Campus

Viele Debatten ranken sich um Sterbehilfe und um die Frage, was einen guten Tod ausmacht. Dabei scheinen wir uns bemerkenswert einig zu sein, dass gut stirbt, wer bis zuletzt er oder sie selbst bleibt.

Wir wünschen uns, so die These dieses Buches, unseren «eigenen Tod»: ein Lebensende, wie es uns entspricht, ein authentisches Sterben.

«Wer dem Ideal vom guten Lebensende nicht genügt oder genügen möchte, muss mit dem Vorwurf leben (und sterben), hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben zu sein. Unter anderem aufgrund dieser dialektischen Verkehrung vom Ideal in Erwartung respektive Zwang hofft man auf Turbulenzen in der Debatte um den ›eigenen‹ Tod. Nina Streeck hat hierfür ein überaus wichtiges Buch verfasst, das […] möglichst viele Leser*innen finden möge.» (Jean-Pierre Wils, Soziopolis, Juli 2020)

«Nina Streeck hält mit ihrem Buch ›Jedem seinen eigenen Tod‹ Palliative-Care-Fachpersonen den Spiegel vor. Sie sollen Patientinnen und Patienten die eigene Vorstellung eines guten Todes nicht aufdrängen.» (palliative zh+sh, September 2020)


Dieser Beitrag erschien am 4. Juli 2020 in der NZZ am Sonntag. Wir danken der Autorin für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.

Nina Streeck, Jedem seinen eigenen Tod. Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende, Frankfurt 2020.