Vom Bitten, Betteln und Beten - demenzjournal.com

Begegnungen

Vom Bitten, Betteln und Beten

«Es gibt keine einzig richtige Antwort auf die Frage geben oder nicht geben. Ich habe mich fürs Geben entschieden, meistens jedenfalls, da ich davon ausgehe, dass ich im allgemeinen mehr Geld habe als die Person, die vor mir steht und mich um einen Franken bittet.» Bild pixabay

Geben oder nicht geben, das ist die Frage, die sich die Autorin Esther Spinner stellt. Wenn nein: Warum nicht, und wenn ja: wie viel denn? Betteln gilt vielen als eine Unsitte, kann aber auch zu interessanten Begegnungen führen, sei es in Zürich oder in Italien.

Die Frau mit der schwarzen Stoffmaske vor Mund und Nase schiebt ihre Ärmel nach hinten, den rechten, den linken, beugt sich zu der Frau, die vor mir im Tram sitzt und von der ich nur die weissblonden Locken sehe. Sehen Sie, kein einziger Einstich, sehen Sie? Und Alkohol, pah, Alkohol, seit zwei Jahren bin ich trocken. Hasch? Einen einzigen Joint in meinem ganzen Leben.

Was kostet denn so eine Übernachtung? fragt die Lockenfrau. Einen Zwanziger. Oh, das ist viel. Ist da wenigstens das Frühstück dabei? Jaja, und auch das Nachtessen, die Dusche, alles. Nun, immerhin. Also denn. Die Lockenfrau drückt der Bittstellerin etwas in die Hand. Aber wie gesagt, Drogen finanziere ich nicht.

Um etwas zu bitten war in meiner Kindheit erlaubt, betteln wurde als unangemessen beurteilt. Was bitten war und was betteln, entschieden die Erwachsenen. Klar war mir, dass Bitten zum Betteln wurde, wenn ich zu lange insistierte, zu oft nachfragte.

Da konnte ich noch so oft Bitte sagen, rein durch die Wiederholung wurde meine Anfrage zum Betteln. Hör auf zu betteln, hiess es dann.

Das Bitten, so schien mir, unterschied sich vom Betteln auch dadurch, dass eine Ablehnung der Bitte klaglos angenommen werden sollte, beim Betteln hingegen konnte ich nochmals und nochmals nachhaken, konnte quengeln oder grollen, was allerdings auch nicht dazu führte, dass meinem Wunsch stattgegeben wurde.

Bitten und betteln seien verwandt, meint das Wörterbuch. Wiederholtes Bitten werde zum Betteln. Die Verwandtschaft zwischen den beiden Wörtern wurde erst spät hergestellt. Im Mittelalter nämlich habe hinter dem Wort Betteln die Verbindung zu Fehler, Gebrechen und auch Not, Sorge und Kummer gesteckt.

Bitten wird zurück geführt auf begehren, dürsten, sehnen. Auch beten ist mit bitten verwandt, Gott oder eine andere Macht wird um Hilfe gebeten, wird angefleht. Das Wörterbuch der Synonyme listet unter bestürmen sowohl bitten wie betteln auf, aber auch flehen, anrufen, bedrängen, beschwören, ersuchen und keine Ruhe geben.

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Die Frau im Tram gab keine Ruhe. Es ist eindeutig: sie bettelte. Wie auch der Mann, der mich vor Jahren an der Tramhaltestelle ansprach. Ich gab ihm etwas Münz, schaute ihm zu, wie er rund ums Bellevue Menschen ansprach, bis er wieder bei mir landete und die Hand ausstreckte.

Jetzt habe ich dir doch gerade etwas gegeben, sagte ich. Unwirsch gab er zurück: Ich kann mir doch nicht meine ganze Kundschaft merken. Ich lachte laut los, während er fast etwas beleidigt weg lief.

Geben oder nicht ist die Frage, die mich immer wieder begleitet. Eine meiner Freundinnen verhält sich völlig pragmatisch: Wenn ich Lust habe, gebe ich etwas, wenn nicht, eben nicht, erklärte sie mir. Ich muss mich also auf mich besinnen, meinen Gefühlszustand prüfen, um die Frage geben oder nicht geben zu beantworten. Ich bin für mich der einzige Massstab. Ist es das, was an der Bettelei nervt?

Einmal, erzählte mir eine andere Freundin, einmal war ich so glücklich, weil meine Arbeit gelobt worden war, richtig aufgedreht war ich und drückte einer alten, bettelnden Frau einen Hunderter in die Hand. Sie hielt ihn an die Augen, streckte ihn mir wieder hin und fragte: Echt? Ja, echt, sagte ich und ging beschwingt weiter.

Gerne stelle ich mir vor, dass es die alte Frau war, die jeweils ganz nahe kam und mir in Thurgauer Dialekt zuflüsterte: Hendsi mir nüd ä Fränggli? 

Mir schien, das Betteln falle ihr nicht leicht, sie schäme sich sogar dafür.

Seit einiger Zeit halte ich umsonst Ausschau nach ihr am Bahnhofquai oder am Central. Erstaunt stelle ich fest: Sie fehlt mir.

Ein Problem, so lese ich in der Zeitung, sei die organisierte Bettelei. Die Polizei habe in einigen Städten durch hohe Präsenz und Wegweisungen der Banden und Clans das Betteln insgesamt auf ein annehmbares Mass reduzieren können.

Ich aber kann kaum unterscheiden, ob hinter der Bettlerin, die mich anspricht, eine Gruppe steht, von der sie ausgebeutet wird. Ich muss für mich andere Kriterien finden, so wie die Lockenfrau im Tram, die keinesfalls Geld geben möchte für Drogen.

Es gibt keine einzig richtige Antwort auf die Frage geben oder nicht geben. Ich habe mich fürs Geben entschieden, meistens jedenfalls, da ich davon ausgehe, dass ich im allgemeinen mehr Geld habe als die Person, die vor mir steht und mich um einen Franken bittet.

Auch in Italien gilt meine Regel, ich halte deshalb immer etwas Kleingeld in der Manteltasche bereit. Doch in diesem besonderen Herbst waren die Bettler plötzlich weg.

Der Mann mit dem langen Bart, der jeweils auf der Marktstrasse kniete und Gott und die Vorübergehenden anrief: verschwunden. Der beinlose im Rollstuhl: verschwunden. Der Mann mit der Fiedel: verschwunden. Die junge Frau mit dem Rucksack und dem Schild vor sich I am from USA: auch verschwunden.

Wo sind sie hin, die dunkelhäutigen Männer, die vor dem Supermarkt die Einkaufswägelchen wieder an ihren Platz schoben und dafür die Münze behalten durften? Wo sind sie hin, die Strassenverkäufer und die Männer, welche an Markttagen auf den überfüllten Parkplätzen winkend und rufend das Chaos verhinderten?

Wo sind die Frauen, die den Strassencafés entlang strichen und die Hand ausstreckten? Und wo sind die Jungen, welche im Dorf die Werbung für die Supermärkte und Möbelketten in die Briefkästen steckten? Alle verschwunden. Wo sind sie hin?

Nur einer ist noch da. Er steht vor dem kleinen Supermarkt, begrüsst alle, die kommen, verabschiedet alle, die gehen. Früher legte er dieser oder jener alten Frau die Hand auf die Schulter, drückte einer die Hand, wusste genau, wie viel Nähe jemand brauchte. Berühren geht jetzt nicht mehr.

Doch noch immer trägt er mir und anderen die Einkäufe zum Auto, fragt noch immer, wie es geht und wünscht lächelnd einen guten Tag, ein schönes Wochenende. Freundlich dankt er für die Münzen, die wir ihm zustecken, freundlich und würdevoll.

Die Zähne leuchten im dunklen Gesicht, von oben fällt das Lächeln auf uns, denn er ist mindestens zwei Meter gross. Steht er da, bin ich beim Einkauf nicht gestresst, sondern gut gelaunt, steht er da, ist mein Tag gerettet. Eigentlich, sagt meine Lebensgefährtin, eigentlich ist er ein Streetworker und sollte angemessen dafür bezahlt werden.

Einverstanden. Ich bete darum, dass er seine Arbeit noch lange verrichten kann.