Alt werden, alt sein - demenzjournal.com

Stigmatisierung

Alt werden, alt sein

«Ich bin also alt. Und werde zum Teil ausgegrenzt. Darüber kann ich mich beklagen, ich kann mich aber auch fragen: Wo grenze ich andere aus?» Bild PD

Die Autorin Esther Spinner ist alt und erlebt, dass sie weniger wahrgenommen wird als früher. Sie beschreibt, was dagegen zu tun ist, und wie ihr eigenes Verhalten zu dieser Veränderung beitragen kann.

Meine Mutter steht vor dem Spiegel und zieht die Lippen nach. Eigentlich, sagt sie fragend zu mir, eigentlich sehe ich gar nicht so schlecht aus. Meine Mutter ist 72 Jahre alt. Ich bin gut 40 und denke: Wen interessiert das? Wieso muss sie noch gut aussehen?

Heute bin ich so alt wie sie damals und stehe selbst vor dem Spiegel, den Augenbrauenstift in der Hand. Es tut mir weh, dass ich sie nicht verstand, nicht verstehen konnte mit meinem noch jugendlichen Blick. Jetzt erst verstehe ich: Sie wollte gesehen, wahrgenommen werden, als denkender und fühlender Mensch ernst genommen werden. Also genau das, was ich auch will.

Auch wenn ich alt bin, auch wenn ich mich mit kleineren und grösseren Beschwerden herumschlagen muss, auch wenn alles langsamer geht. Was zu Hause niemanden stört, draussen aber schon.

Die anderen, die Jungen, die Schnellen, müssen warten, bis die Alten in den Bus gestiegen sind, bis sie an der Kasse ihr Kleingeld oder ihre Kreditkarte hervor geklaubt und den Code eingegeben haben, warten, weil sie den Lauch nicht gewogen haben und damit die ganze Schlange aufhalten, weil sie, wenn denn endlich alles bezahlt ist, merken, dass sie die Butter vergessen haben, sie diese holen und sich an der Schlange vorbei drängeln, schliesslich gehöre die Butter noch zu ihrem Einkauf.

Manchmal gehöre ich zu den schussligen Alten, manchmal aber auch zu den jüngeren, die in der Reihe stehen und ungeduldig von einem Fuss auf den anderen treten.

Wie werden alte Menschen gesehen? Hier spielt kein Jöh-Effekt, der Entchen, Kätzchen und junge Hunde so anziehend macht.

Seit ich eine alte Frau bin, meine ich, weniger wahrgenommen zu werden. Viele junge Menschen sehen durch mich hindurch, mittelalte schauen eher unangenehm berührt.

An mir sehen sie, wie es ihnen ergeht, wenn die Falten zunehmen, das Gehen beschwerlicher wird, wenn man mit dem Einkaufswagen unterwegs ist, für den man sich früher geschämt hätte und sich doch eines Tages dafür entschieden hat.

Die Pandemie hat den Blick nochmals verändert. Plötzlich sollen alle Alten zu Hause bleiben, sie sollen geschützt werden, doch mir scheint, sie und damit ich, stehen unter Generalverdacht. Wir sind schuld, dass andere eingeschränkt werden. Schiefe Blicke, wenn ich aus dem Haus gehe, ich werde grossräumig umgangen.

Ich gehöre nicht mehr auf die Strasse, werde wahrgenommen als Quelle möglicher Ansteckung oder als eine, die anderen die Lebensfreude vermiest. Freundinnen erzählen mir von Anrempelungen, eine hat ihren Job als freiwillige Altersbegleiterin verloren, laut Zeitung wurden zwei alte Frauen gar angespuckt. Weil sie draussen sind? Weil sie noch am Leben sind?

Vielleicht sind wir Alten zu empfindlich. Schliesslich ist die Situation für niemanden leicht, nicht für die Eltern, die im Wohnzimmer eine Schule betreiben sollen, nicht für diejenigen, die ihre Arbeit zu Hause erledigen müssen.

Und doch. Immer noch möchte ich selbst bestimmt leben, und weiss doch, dass das in der heutigen Situation kaum jemand kann.

Die alten Menschen im Heim wurden regelrecht eingesperrt, und ich frage mich, wo Schutz aufhört und Entmündigung beginnt.

Tröstlich ist in diesem Zusammenhang die Studie, welche die Pro Senectute in ihrem Jahresbericht veröffentlicht. Fühlen sich ältere Menschen im Alltag benachteiligt? Die zusammenfassende Antwort: selten. Demnach fühlen sich alte Menschen ganz einfach wie Menschen.

Nach acht Wochen zu Hause, wage ich mich wieder hinaus, und bin angenehm überrascht. Keine Hektik. Ich streife durch halbleere Geschäfte und kann so langsam sein, wie ich will, werde gesehen, auch gegrüsst von unbekannten Menschen. Eine neue Art der Sorgfalt, die mich freut.

Ist Gesehenwerden ein Menschenrecht? In Italien fühle ich mich zugehöriger, auch als alte Frau. Mit jungen und alten Menschen fällt das Reden in der Bar leicht, der Neffe einer Nachbarin bleibt stehen, um mit mir zu plaudern, die Frau, die ich nur vom Vorübergehen kenne, klopft bei mir an, um mir zu erzählen, dass sie heirate. Das habe sie mir persönlich sagen wollen.

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Vielleicht werden alte Menschen weniger aufs Altsein reduziert, vielleicht steht in Italien das Menschsein mehr im Vordergrund? Vielleicht ist es auch nur, dass ich in Italien in einem kleinen Dorf wohne, hier aber in der grössten Schweizer Stadt.

Um Ausgleich bemüht, habe ich vor einigen Jahren damit begonnen, andere alte Menschen anzulächeln, einer fremden Frau im Bus zu sagen, wie sehr mir ihr Hut, ihr Mantel gefällt. Diese kurzen Kontakte helfen mir und den anderen. Wenn wir schon beinahe verschwunden sind: wir sehen einander, wir geben einander durch ein Kopfnicken zu verstehen: Wir sind noch da. Und es geht uns gleich.

Wie oft bewundere ich einen alten Mann, der mit zwei Stöcken über die Strasse hinkt, oder die alte Frau, die mit verkrüppelten Händen Äpfel in einen Sack steckt, den sie kaum halten kann. Altwerden und Altsein braucht Mut. Manchmal fürchte ich mich vor den nächsten Jahren. Ob ich genügend Mut haben werde?

Einander anzuschauen, einander zu grüssen heisst, gegen die Selbststigmatisierung arbeiten. Denn es sind nicht nur die anderen.

Die Hoffnung, jünger auszusehen als ich bin, kenne auch ich. Mit etwas Schminke und einer neuen Bluse wird es wohl klappen. Doch damit ist gar nichts gewonnen. Ich bin nicht jünger als die anderen Alten auf der Strasse – und das ist sichtbar.

Ich bin also alt. Und werde zum Teil ausgegrenzt. Darüber kann ich mich beklagen, ich kann mich aber auch fragen: Wo grenze ich andere aus?

Wie schaue ich junge Menschen an, die sich an ihr Smartphone klammern, wenn sie durch den Wald joggen? Wie schaue ich Menschen mittleren Alters an, was schreibe ich ihnen zu?

Und die Frage, die in diesen Tagen nicht nur die USA beschäftigt: Wie rassistisch bin ich? Wechsle ich die Strassenseite, weil mir ein dunkelhäutiger Mann entgegen kommt? Nehme ich an, jede Frau mit einem Kopftuch habe keine eigene Meinung?

Immer wieder bemühe ich mich darum, offen zu bleiben, nicht den gängigen Vorurteilen zu glauben, Menschen nicht in Schubladen zu stecken. Nicht immer gelingt es mir. Ab und zu muss ich mich selbst zur Ordnung rufen.

Halt. Vor dir steht ein Mensch, alt oder jung, dunkel oder hell. Ein Mensch, dem genau der Respekt gilt, den ich für mich selbst einfordere, ein Mensch, der gesehen und wahrgenommen werden will.