Mit den Auffassungen von früher ist Vorsicht geboten - demenzjournal.com

Mutmasslicher Wille

Mit den Auffassungen von früher ist Vorsicht geboten

Wie würde sie jetzt entscheiden, wenn sie könnte? Bild Dominique Meienberg

Darf man einem Menschen mit fortgeschrittener Demenz keine Medikamente geben, weil er vor seiner Erkrankung gegen die Schulmedizin war? Im Zusammenhang mit dem neuen Erwachsenenschutzgesetz lohnt sich eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Begriff «mutmasslicher Wille».

In der Botschaft des Bundesrats zum neuen Erwachsenenschutzrecht wird die Förderung der Selbstbestimmung als vorrangiges Ziel der Gesetzgebungsrevision genannt. Für dasselbe Ziel treten Ethikerinnen und Ethiker seit geraumer Zeit ein. Mancher Geschichtsschreiber der modernen Bioethik reduziert diese sogar auf den Kampf um die Akzeptanz von Patientenrechten.

Das heisst natürlich nicht, dass die neue Gesetzgebung Einfluss und Argumenten der Ethik geschuldet ist. Ein Wandel des Zeitgeistes spielt eine weit grössere Rolle.

Zur beruflichen Verantwortung von Ethiker:innen gehört es, sich möglichst nicht von Zeitströmungen beeinflussen zu lassen, sondern diese kritisch zu beurteilen. Das Ziel, dem Selbstbestimmungsrecht zu mehr Achtung zu verhelfen, hält jedoch einer kritischen Hinterfragung stand.

Es nicht zu tun, ist auch ein Recht

Umso wichtiger ist es zu prüfen, ob diese Intention im Gesetz und in der Praxis verwirklicht wird. Was die Praxis betrifft, sind Zweifel angebracht. Ein Beispiel ist die zunehmend in Alters- und Pflegezentren zu beobachtende Praxis, im Aufnahmeverfahren Willenserklärungen über medizinische Behandlungen einzufordern.

Die betreffenden Institutionen fragen neue Bewohner:innen, ob sie Reanimation, lebensverlängernde Massnahmen oder eine Überweisung in eine Klinik wollen, füllen Formblätter aus und lassen diese nach dem Gespräch unterschreiben. Was ist von dieser Praxis zu halten?

Das Recht auf Selbstbestimmung gibt dem Einzelnen nicht nur das Recht, Willenserklärungen bezüglich künftiger medizinischer Massnahmen zu formulieren, es gibt dem Einzelnen auch das Recht, dies nicht zu tun.

Jede Person muss sagen können: «Das kann und will ich jetzt nicht entscheiden.» Wird ihr im Aufnahmeprozess eines Heims diese Möglichkeit genommen, missachtet man ihr Selbstbestimmungsrecht. Dies ist der Fall, wenn die Formulare die Möglichkeit, dass Personen sich nicht festlegen wollen, überhaupt nicht vorsehen. Das Vorgehen der Heime muss dennoch nicht rechtlich falsch sein. Dies wäre abzuklären.

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Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Aber es ist aus den eben genannten Gründen moralisch unzulässig; und an dieser Aussage änderte sich nichts, wenn es rechtlich zulässig wäre. Im Zentrum dieses Textes soll jedoch nicht die allgemeine Praxis stehen.

Im Weiteren sollen zwei spezifischere Fragen beantwortet werden. Erstens jene, ob das neue Erwachsenenschutzrecht der besonderen Situation gerecht wird, in denen sich Menschen mit Demenz befinden. Zweitens jene, ob es Personen hilft, wie sie ihre moralische Verantwortung für Menschen mit Demenz wahrzunehmen haben. Ich beginne mit der Beantwortung der zweiten Frage.

Die Entscheidung liegt bei der Institution

Geht es um die Zuständigkeit und damit den Verantwortungsbereich von Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden und Angehörigen, wird dieser durch das neue Erwachsenenschutzrecht nicht neu geregelt. 

Weiterhin bedürfen – Notfallsituationen einmal ausgeklammert ­– medizinische Massnahmen der vorgängigen Einwilligung des Betroffenen oder einer stellvertretenden Einwilligung durch dessen Vertreter. Pflegemassnahmen erfolgen nach wie vor im Rahmen eines  abzuschliessenden Betreuungsvertrags.

Weiterhin dürfen Angehörige also nicht bestimmen, ob und, wenn ja, wie in einer Pflegeeinrichtung eine konkrete Pflegemassnahme erfolgen soll. Selbst bei bewegungseinschränkenden Massnahmen haben Angehörige nur ein Informationsrecht. Über die Durchführung entscheidet die Institution.

Die Zuständigkeiten sind klar; und das neue Erwachsenenschutzrecht bietet in dieser Hinsicht auch nichts neues. Ob das Recht hilft, dass die Personen innerhalb dieser Zuständigkeiten verantwortungsvoll handeln, ist eine andere Frage. Wenn wir nur die Vertretung von Menschen mit Demenz bei medizinischen Massnahmen betrachten.

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Der allgemeine Grundsatz ist, dass vertretungsberechtigte Personen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der betroffenen Personen entscheiden sollen. Bei Feststellung des mutmasslichen Willens von Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz beziehen sich deren Vertreter oftmals auf das, was die betroffenen vor der Erkrankung für wichtig hielten. Nehmen wir nur ein Beispiel:

Herr A. ist immer ein entschiedener Gegner der «Schulmedizin» gewesen und hat insbesondere die Produkte der Pharmazeutischen Industrie vehement abgelehnt.  Seine Demenzerkrankung ist so weit fortgeschritten, dass er für die Frage der medizinischen Behandlung nicht urteilsfähig ist. Gewisse Psychopharmaka würden jetzt seine Lebensqualität erhöhen. 

Darf der Vertreter in diese Behandlung einwilligen oder muss er sie verweigern?  Wenn man sich darauf bezieht, was Herr A. früher wertvoll und wichtig war, müsste der Vertreter sagen, dass er mutmasslich die Behandlung ablehnt.

Wie würde sie jetzt entscheiden, wenn sie könnte?

Besteht der mutmassliche Wille eines Menschen mit Demenz wirklich darin, was er vor seiner Demenzerkrankung wollte? Dies darf nicht einfach mit dem Hinweis darauf bejaht werden, dass man bei der Bestimmung des mutmasslichen Willens ja überhaupt keine andere Möglichkeit hat.

Der mutmassliche Wille besagt, wie eine Person selbst entscheiden würde, wenn sie es denn könnte. Mutmassungen, wie eine Person entscheiden würde, müssen sich stets auf frühere mündliche Bekundungen beziehen, die vor der Zeit der Urteilsunfähigkeit erfolgten. Denn es gibt keine anderen Anhaltspunkte.

Demenz und das Gesetz

Wird das Erwachsenenschutzrecht der besonderen Situation von Menschen mit Demenz gerecht? Wenn man den Begriff des mutmasslichen Willens am Beispiel vorübergehender Urteilsunfähigkeit ausrichtet, ist dies nicht unbedingt der Fall. Das Erwachsenenschutzrecht ist in dieser Hinsicht freilich offen. Wenn der Gesetzgebung ein Vorwurf zu machen ist, dann nur jener, dass sie diese spezifische Situation einer demenziellen Veränderung nicht näher berücksichtigt. Es kann daher sein, dass Menschen mit Demenz zu wenig davor geschützt werden, dass medizinische Massnahmen aufgrund von Auffassungen vorgenommen oder verweigert werden, die nicht mehr die ihren sind. (Klaus Peter Rippe)

Aber dieser Verweis auf übliche Verfahren übersieht eines: Beim mutmasslichen Willen geht es darum, wie eine Person jetzt entscheiden würde, wenn sie könnte. Frühere Aussagen haben nur dann eine Bedeutung, wenn man guten Gewissens davon ausgehen kann, dass sie dem jetzigen Willen entsprechen.

Bei Personen mit vorübergehender Urteilsunfähigkeit ist dies in der Regel der Fall. Auch ohne Vorliegen einer Patientenverfügung verböte es sich, einer als Zeugin Jehovas bekannten Person eine Bluttransfusion zu geben. Denn man muss davon ausgehen, dass sie weiterhin Zeugin Jehovas ist.

Bei Menschen mit einer langjährigen Demenzerkrankung ist hier grössere Vorsicht geboten. Der Vertreter von Herr A. weiss, dass dieser früher Gegner der «Schulmedizin» war. Aber welchen Anhalt hat er, dass er es weiterhin ist? Ich fürchte, die Antwort ist: Keine.

Illustrieren wir dies an einem anderen Beispiel. Vor ihrer Demenzerkrankung war Frau B. Vegetarierin. Nach einer mehrjährigen Alzheimer-Erkrankung ist sie nunmehr in einem Pflegeheim und entwickelt dort eine Vorliebe für fleischliche Gerichte.

Können wir wirklich sagen, dass sich Frau B. weiterhin für den Vegetarismus entschiede, wenn sie es könnte? Bejahen wir dies, betrachten wir Demenz als zeitweise Veränderungen einer Person, die aber eigentlich unverändert bestehen bleibt und jederzeit wieder zum Vorschein kommen kann.

Ändern sich Menschen in einer demenziellen Erkrankung grundlegend, ist es sinnvoller zu sagen, dass Frau B. früher Vegetarierin war, es aber jetzt nicht mehr ist.

Ist dies der Fall, dürfen wir Menschen mit Demenz bei Festlegung des mutmasslichen Willens keine Vorstellungen und Auffassungen unterschieben, die sie früher hatten. Wir müssen uns daran orientieren, was sie jetzt wünschen. Der Vertreter von Herrn A. müsste sich für die Verschreibung einsetzen, wenn diese in dessen Interesse ist.