«Missbrauch kann nicht generell verhindert werden» - demenzjournal.com

Demenz und Wahlrecht

«Missbrauch kann nicht generell verhindert werden»

Menschen mit Demenz dürfen trotz kognitiver Einschränkungen an Wahlen teilnehmen. Bild PD

Dürfen Menschen mit Demenz auch an den allgemeinen Wahlen teilnehmen? Ein Gespräch mit der Anwältin Bärbel Schönhof über Teilhaberechte, Stimmenmissbrauch und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

alzheimer.ch: Dürfen Menschen mit Demenz an Bundestagswahlen ihre Stimme abgeben?

Das Wahlrecht ist eines der elementarsten staatsbürgerlichen Rechte, das nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf. Im Bundeswahlgesetz sind in § 13 die Ausnahmen geregelt.

Danach wäre ein Mensch mit kognitiven Einschränkungen nur dann vom Wahlrecht ausgeschlossen, wenn für ihn eine rechtliche Betreuung besteht und der Aufgabenkreis des Betreuers «alle Angelegenheiten» umfasst. Eine «eingeschränkte Kognition» oder «Fähigkeit zur Willensäusserung» reicht dafür nicht aus und das ist gut so.

Bärbel Schönhof ist Rechtsanwältin und Vizepräsidentin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft.Bild PD

Kann man über eine Generalvollmacht festlegen, wer für mich das Wahlrecht ausüben darf?

Bärbel Schönhof: Nein. Die derzeitige Rechtslage lässt eine Übertragung des Wahlrechtes nicht zu. Es bleibt ein höchstpersönliches Recht.

Wenn keine Übertragbarkeit auf einen Stellvertreter möglich ist, ist man also vom Stimmrecht ausgeschlossen?

Richtig. Menschen, für die eine Betreuung in «allen Angelegenheiten» bestellt ist, sind und bleiben derzeit ohne Wahlrecht.

Ob eine Gesetzesänderung hin zur Übertragbarkeit des Wahlrechtes auf andere Personen sinnvoll und machbar ist, muss sorgfältig abgewogen werden, da die Gefahr des Missbrauchs gegeben sein kann.

Ein Kandidat könnte in ein Altersheim gehen und dort die Wahlzettel von Bewohnern ausfüllen, die eine Demenz haben…

Der Gesetzgeber müsste dann in jedem Fall dafür sorgen, dass Menschen mit Demenz, insbesondere in späteren Stadien, nicht für Wahlmanipulationen missbraucht werden können.

Mitarbeiter der Alten- und Pflegeheime zum Beispiel sind gehalten, das Wahlgeheimnis zu respektieren.

Bittet ein Bewohner um Hilfestellung, kann diese jedoch gewährt werden, insbesondere was den Transport zum Wahllokal angeht.

Missbrauch kann nicht generell verhindert werden. Formen des Missbrauchs können sein: Unterlassene Meldung beim zuständigen Wahlamt, dass Betreuung in allen Angelegenheiten benötigt wird und zugleich nicht autorisierte Nutzung einer weiteren Wahlstimme durch Nächststehende.

Oder: Anordnungen einer rechtlichen Betreuungen nach §13 Bundeswahlgesetz ohne Dringlichkeit und damit Aberkennung des persönlichen Wahlrechts durch die Wahlbehörde.

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Wie viele Personen sind derzeit von einem Ausschluss vom Wahlrecht betroffen?

Zahlen sind mir nicht bekannt.

Philosophen des Strengen Reduktionismus und der Lockeschen Tradition sprechen Menschen mit Demenz den Personenstatus ab. Um Person zu sein, brauche es unter anderem die Fähigkeit zu argumentieren, autonom zu sein, Probleme zu lösen. Was halten Sie davon?

Ich würde ihnen Artikel 1 und 3 des Grundgesetzes vorlesen. Artikel 1 Absatz 1 GG besagt: «Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.»

Artikel 3 Absatz 1 und 3 GG besagen: «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.» Und: «Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.» Das Grundgesetz stellt die rechtliche und politische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland dar. 

Die von mir angeführten Grundrechte haben, im Wesentlichen aufgrund der Gräueltaten im Nationalsozialismus, elementare Bedeutung.

In den «Leitsätzen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft zu ethischen Fragestellungen», haben Menschen mit Demenz das Recht, «an allem, was sozial, gesellschaftlich und kulturell möglich ist, teilzunehmen.»  

Richtig.

Ist das Wahlrecht hier dem Grundsatz nach eingeschlossen?

Das Wahlrecht ist von diesem Teilhaberecht umfasst. Dies ist übrigens einer der allgemeinen Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention, Artikel 3, wonach diese Konvention die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft ermöglichen soll. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft stimmt in diesen Punkten mit der Konvention völlig überein.

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In den Leitsätzen heisst es: «Willensäusserungen von Demenzkranken sind zu beachten». Wie kann dies umgesetzt werden?

Die UN-Behindertenkonvention gibt auch darauf eine Antwort. Sie fordert, dass «alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Massnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen» sind.

Dies wird in Artikel 29 der Konvention noch weiter konkretisiert, indem sich die Vertragsstaaten verpflichten sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen, wirksam und umfassend, am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können, was auch das Recht und die Möglichkeit einschliesst, zu wählen.

Die Vertragsstaaten müssen sicherstellen, dass Wahlverfahren, Wahleinrichtungen und Wahlmaterialien geeignet, zugänglich, leicht zu verstehen und leicht handzuhaben sind.

Geht es nach Hubert Hüppe, Bundesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen 2009 bis 2013, ist das Wahlrecht ein «ureigenes Recht eines jeden Bürgers in der Demokratie». Wenn Menschen mit Demenz in vielen Fällen vom Wahlrecht nach §13 BWahlG ausgeschlossen sind, sind sie dann noch «Bürger»?

Selbstverständlich sind Menschen mit Demenz als Bürger anzusehen, die gleiche Rechte geniessen, wie alle anderen Bürger auch. Die UN-Behindertenrechtskonvention verbrieft dieses Recht umfassend. Der Gesetzgeber ist gehalten, diese Rechte zu garantieren.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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In Österreich und den Niederlanden gab es bereits eine Aufhebung dieses Ausschlusses. Hüppe forderte, dass Wahlinformationen so aufzubereiten sind, dass diese für Menschen mit Behinderung nachvollziehbar sind.

Da die Vertragsstaaten der UN-Behindertenrechtskonvention sich diese Selbstverpflichtung auferlegt haben, muss eine Umsetzung erfolgen, diese ist auch machbar.

Die Deutsche Alzheimer wird sich weiterhin für die Rechte und die Wahrnehmung der Bedürfnisse von Menschen mit Demenz einsetzen. Politisch und juristisch dringend erforderlich ist dabei die weitere Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Vielen Dank für das Interview.