Wie sich Angehörige von Menschen mit Demenz austauschen

Gegenseitig unterstützen

«Den Balz ziehe ich einfach mit»

Demenz ist die Krankheit der kleinen Missgeschicke und grossen Dramen. Bild Véronique Hoegger

In Gesprächsgruppen können Angehörige von Menschen mit Demenz ihre Erfahrungen austauschen. demenzjournal besuchte ein solche Gruppe in Glarus.

«Mich interessiert, wie ihr die Gefühle erlebt», sagt Rosa*. «Bei den Männern kommt man nicht so recht an die Gefühle. Mich interessiert, ob auch Du manchmal weinst.» Der angesprochene Max, ein vierschrötiger Mann mit lauter Stimme und kariertem Hemd, sitzt ihr mit offenem Blick gegenüber und antwortet: «Was bringt das?» Nach einer kurzen Pause sagt Rosa: «Vielleicht denke ich das nächste Mal, wenn ich weine, an Max’ Worte. Vielleicht bringt es ja wirklich nichts.» Rosa hat eine Mutter, die vermutlich an einer beginnenden Demenz leidet. Und Rosa ist unschlüssig, wie sie ihre Mutter, die ihre Defizite vehement abstreitet, unterstützen kann.

Er sei schon nicht immer gleich gut aufgelegt, teilt dann Max doch noch mit. «Bist Du denn manchmal wütend?», hakt Rosa nach. Max, ein pensionierter Gewerbler aus Ennenda, dessen Frau schwer dement ist und in einem Heim lebt, ringt nach Worten. Die Gruppenleiterin Sylvia Hefti spricht aus, was Max jetzt vielleicht denkt: «Was ich hier oft erlebe, ist Traurigkeit. Man kommt sich allein vor. Und die Leute finden es nicht gerecht, dass die medizinischen Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Bei der Demenz hingegen müssen sie bezahlen, bis kein Geld mehr da ist.»

Angebote für Angehörige

In der Schweiz gibt es verschiedene Institutionen, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die profilierteste ist Alzheimer Schweiz. Sie und ihre 21 Sektionen setzen sich für bessere Lebensbedingungen für Menschen mit Demenz ein. Die Mitarbeiter von Alzheimer Schweiz leisten Hilfe zur Selbsthilfe, informieren, beraten, unterstützen und bilden aus. Angehörigengruppen, die sich regelmässig treffen, gibt es in vielen Regionen der Schweiz. Die Pro Senectute verfügt über ein Netz von über 130 regionalen Beratungsstellen. Über die Website oder telefonisch können Beratungstermine vereinbart werden. Die Fachleute der Pro Senectute vermitteln Entlastungsangebote, unterstützen in schwierigen Situationen oder zeigen auf, wie die Betreuung finanziert werden kann.

Es gebe auch im Kanton Glarus Leute, die sich bei der Betreuung ihres demenzkranken Angehörigen selbst überfordern, weil sie sich davor fürchten, die hohen Kosten für die Betreuung zu Hause oder im Heim nicht bezahlen zu können. «Es wäre an der Zeit, dass politisch etwas geht», findet Hefti. An diesem Abend sprechen die sechs Angehörigen vor allem über die Tücken des Alltags und über die Bedeutung von medizinischen Diagnosen. 

Im Kursraum der Glarner Pro Senectute trifft sich die Gruppe immer am ersten Mittwoch des Monats. Zwischen fünf und zehn Angehörige nehmen jeweils teil. Sylvia Hefti hat sich für ihre Aufgabe speziell ausbilden lassen. Seit 15 Jahren betreut sie beruflich und privat Menschen mit Demenz. «Oft muss im Alltag alles sehr schnell gehen, man verliert die Sensibilität fürs Wesentliche», sagt sie. «Wenn man alte Menschen betreut, muss man sich ihrem Tempo und ihrer Ruhe anpassen. Das finde ich sehr wertvoll, deshalb wechselte ich von der Gastronomie in diesen Bereich.»

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Normalerweise dauert das Treffen der Angehörigengruppe 90 Minuten. Doch heute gibt es viel zu bereden, weil zwei Neue dabei sind. Kathrin ist 75-jährig, ihr Mann Balz acht Jahre älter. Letztes Jahr haben sie das für alte Menschen ungünstig gelegene Haus am Walensee verlassen und sind nach Näfels gezogen. Balz ist vergesslich geworden und hört sehr schlecht. Kathrin war am Montag bei der Pro Senectute in der Beratung und hörte vom Angehörigenabend.

«Ich will wissen, wie ich Balz am besten begleiten und beschäftigen kann. Ich bin gesund und habe viel Energie. Den Balz ziehe ich einfach mit.»

Kathrin

Dann berichtet sie vom früheren «Power-Mann»: 40 Leute habe er in seiner Baufirma beschäftigt, den Engadiner Ski-Marathon sei er x-mal gelaufen. Und jetzt könne er den Küchenabfall nur noch hinausbringen, weil die Sammelstelle auf der gleichen Strassenseite liege wie ihre Wohnung. «Über die Strasse kann ich ihn nicht mehr lassen, das wäre zu gefährlich.»

Ruth (78-jährig) nimmt zum zweiten Mal am Angehörigenabend teil. Die distinguierte Dame war früher Unternehmerin. Die Krankheitsgeschichte ihres Gatten Fritz dauert schon 20 Jahre. Die Diagnose «vaskuläre Demenz» erfolgte erst vor wenigen Jahren. Indizien dafür gab es schon viel früher. Zum Beispiel, als der Arbeitgeber ihres Gatten die Administration auf Computer umstellte. «Er war überfordert, kam wütend nach Hause», sagt Ruth. «Ich riet ihm, sich pensionieren zu lassen – ich hatte ja mein Geschäft. Ich arbeitete noch, bis ich 72-jährig war, und er machte den Haushalt.» Vor drei Jahren begannen sich die Symptome einer Demenz dann zu mehren.

«Es wird immer schlimmer. Ständig muss ich aufpassen, dass er nichts Dummes macht. Kürzlich hat er an der Umwälzpumpe des Swimming Pools herumgeschraubt, weil er Strom sparen wollte. Ich musste den Monteur rufen, es kostete über 300 Franken. Auch bei der Heizung muss ich aufpassen.»

Ruth und ihr Gatte besitzen im Sernftal ein kleines Häuschen. Oft bringt Ruth ihren Fritz um neun Uhr dort hinauf und lässt ihn bis 17 Uhr oben. So kann sie ungestört ihren Verpflichtungen nachgehen, und er kann irgendetwas machen. Sie selbst verweile nicht mehr in dem Häuschen: «Es sieht furchtbar aus. Es herrscht Unordnung, das Geschirr ist dreckig, und die Fenster müssten längst ersetzt werden. Aber er sagt, dies sei nicht nötig.» 

Eine zusätzliche Entlastung für Ruth ist in Sicht. «Ich hoffe, dass es mit dem Hund besser wird», sagt sie. «Wir hatten schon drei Pudel, der letzte ist im Herbst gestorben. Wenn wir den neuen haben, kann Fritz mit ihm hinausgehen und hat eine Beschäftigung.» Eine Beschäftigung für ihren Balz sucht auch Kathrin. «Schach spielen würde ihn interessieren. Aber im Schachklub spielen nur die Profis, da wäre er überfordert.» Ihr Sohn komme demnächst vorbei und werde Schach auf dem Computer installieren.

Mit dem Dienstbüchlein in der Bank

Ein Thema am Angehörigenabend sind auch die kleinen, manchmal komischen Episoden, die sich im Alltag von Menschen mit Demenz abspielen. Zum Beispiel wies sich Fritz in der Bank mit dem Dienstbüchlein aus und erklärte dem Mann am Schalter, er sei früher bei der Grenzwache gewesen. Ruth stand daneben und liess ihn machen.

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Kathrin hört aufmerksam zu und sagt: «Ein vorwurfsvoller Ton in einem Wort reicht, und schon ist die Beleidigung da.» Sylvia Hefti bestätigt, dass die starken Gefühle immer da seien. Im Laufe des Abends streut sie immer wieder bestätigende und mitfühlende Worte ein. Da und dort gibt sie auch Tipps. Zum Beispiel, dass man sich über den Hausarzt oder auch direkt für eine Abklärung in der Churer Memory-Klinik anmelden könne.

Hefti gibt Kathrin am Schluss der Veranstaltung eine Dokumentation mit, in der verschiedene Hilfs- und Beratungsangebote aufgelistet sind. Es ist schon nach 21 Uhr, und Kathrin sagt, ihr Mann sei jetzt seit Langem wieder einmal allein zu Hause. Deshalb müsse sie jetzt unbedingt gehen. «Ich sagte ihm, er müsse die Acht drücken, damit er seine Sendung auf Vox anschauen kann.»

demenzwiki

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*Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden alle Namen der Angehörigen geändert. Die Angehörigengruppe der Alzheimervereinigung Sektion Glarus findet immer am ersten Mittwoch des Monats statt. Weitere Informationen zu regionalen Angeboten unter: www.prosenectute.ch und www.alz.ch.