Weil es sonst niemand macht - demenzjournal.com

Das Richtige tun

Weil es sonst niemand macht

«Die Frau ist sehr einsam in ihrer Wohnung und wäre sicher besser aufgehoben an einem Ort, wo man auf sie schaut.» Bild Pixabay

Wie soll sich die Hauseigentümerin verhalten, wenn die langjährige Mieterin plötzlich Gespenster sieht, und dies immer öfter?

Die 74-jährige Agnes Kennel* lebt seit 16 Jahren allein in einer Dreizimmerwohnung in Miete. Sie lebt unauffällig und hat nie irgendwelche Probleme bereitet. Anja Huber*, Eigentümerin und Verwalterin des Mehrfamilienhauses, ist Frau Kennel nie persönlich begegnet, es gab keinen Anlass dazu.

Bis im vergangenen September, als Frau Huber der Mieterschaft brieflich mitteilte, dass es Veränderungen gegeben habe und sie die Verwaltung der Liegenschaft nun persönlich übernehmen werde. Bei Problemen solle man sich direkt an sie wenden.

Daraufhin meldete sich Frau Kennel und fragte, was sie mit diesem Brief anfangen soll. Der sei einfach zur Kenntnisnahme, riet ihr Frau Huber. «Bei mir ist nämlich die Toilette verschmutzt», entgegnete Frau Kennel.

Das sei eigentlich kein Grund anzurufen, das WC müsse sie schon selbst putzen, antwortete Frau Huber.

Das sei ganz sicher nicht Sache der Verwaltung. Was für ein komisches Gespräch, ging es ihr nachher durch den Kopf.

Nur wenig später meldete sich Frau Kennel erneut, diesmal berichtete sie von einer defekten Toilette. Weil es Wochenende war, musste Frau Huber einen Notservice kontaktieren. «Ich bat Frau Kennel, sich bei mir zu melden, sobald der Installateur eine Einschätzung und ein Angebot gemacht hat, natürlich würden wir die Kosten übernehmen.»

Der Handwerker muss die Unsicherheit der alten Frau erkannt haben, denn er knöpfte ihr vor Ort 2000 Franken ab, ohne dass Frau Huber vorgängig über irgendetwas informiert worden wäre. «Der war ein richtiges Schlitzohr, hat kaum etwas repariert und als Folge war das ganze Haus eine Zeit lang ohne Wasser.»

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Während Frau Huber einigermassen gelassen blieb und die Zahlung veranlasste, regte sich Frau Kennel dermassen auf, dass Herr Huber, Anjas Ehemann, persönlich bei ihr vorbeiging. Ganze zwei Stunden verbrachte er dort. Er habe bei seinem Besuch nur ein verunsichertes Häufchen Elend vorgefunden. «Aber immer noch im Bereich des Normalen, soweit er das beurteilen könne, sie sei halt einfach eine alte Frau», erinnert sich Frau Huber.

Nach diesem Vorfall meldete sich Frau Kennel regelmässig und in immer kürzeren Abständen. Einmal war es ein fehlendes Namensschild an der Haustür, dann gab es plötzlich keine Klingel mehr. Frau Huber schickte ihren Sohn vorbei, der alles in Ordnung vorfand und ein Foto vom Hauseingang machte.

Kurze Zeit später meldete Frau Kennel, sie hätte alle fünf Hausschlüssel verloren. «Das wäre ziemlich teuer geworden, alle Schlüssel im Haus hätten ausgewechselt werden müssen … ». Auch diese Geschichte stellte sich schliesslich als Hirngespinst heraus, ebenso wie jene, als Frau Kennel verzweifelt berichtete, jemand sei in ihre Wohnung eingedrungen und habe sie, während sie im Bad war, beraubt.

Etwas musste geschehen, die Situation war untragbar geworden. Doch an wen sollte sie sich wenden?

Frau Huber wusste, dass Frau Kennel geschieden war und Kinder hatte. Sie sprach das Thema an. «Lasst mich bitte in Ruhe damit», klagte Frau Kennel, mit der Tochter habe sie schon über zehn Jahre keinen Kontakt mehr, und eine Telefonnummer habe sie auch nicht, ihre Agenda sei ja bekanntlich gestohlen worden.

Frau Huber bot ihr an, die Spitex oder einen Arzt zu kontaktieren, irgendjemand musste ihr doch helfen können? Auch davon wollte Frau Kennel nichts wissen. Wie konnte man die Tochter sonst ausfindig machen? Also wandte sich Frau Huber an die Polizei.

Die Beamten seien sehr zuvorkommend gewesen. Zwar verfüge man über gewisse Informationen, doch der Datenschutz erlaube es nicht, über Frau Kennels Verhältnisse Auskunft zu geben, sie solle sich doch an die KESB (Kinder- und Erwachsenenschutz-Behörde) wenden. Was sie dann auch tat.

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Dort riet man ihr, ein Formular aus dem Internet herunterzuladen, um der Behörde auf diesem Weg den Sachverhalt näher zu bringen. Zuerst war Frau Huber etwas verunsichert, denn sie hatte von niemandem das Einverständnis dazu, sie war schliesslich nur die Vermieterin, sie hatte die Frau nie persönlich getroffen. Doch sie hatte Angst um sie und um die Wohnung. Was passiert, wenn sie den Herd oder den Ofen vergisst?

Nun, sie tat wie ihr geheissen und füllte die Gefährdungsmeldung der KESB aus. «Das ist nicht mehr gut mit der Frau Kennel, da muss man schnell eine Lösung finden», erklärte sie der Beraterin. Hier handle es sich sicher um einen Fall von Demenz, die Vorkommnisse hätten sich gehäuft in den letzten Wochen. «Die Frau ist sehr einsam und wäre sicher besser aufgehoben an einem Ort, wo man auf sie schaut.»

Frau Huber wusste, wovon sie sprach, ihre Mutter war erst kürzlich mit einer Demenz verstorben.

Die Frau von der KESB beruhigte sie. Es sei noch zu früh, dies abschliessend zu beurteilen, vielleicht seien die Medikamente falsch eingestellt oder es habe sich ein Gehirntumor gebildet. 

Eine Woche später erhielt Frau Huber ein Schreiben der KESB, die sich bei ihr bedankte und ihr mitteilte, dass man bei Bedarf im Rahmen der Abklärungen wieder mit ihr in Kontakt treten würde. Zudem wurde auf das Amtsgeheimnis verwiesen – man dürfe keine Auskünfte über konkret eingeleitete Schritte und Massnahmen geben.

Die alte Frau tat Anja Huber leid, obwohl sie sie kaum kannte. Sie war in den vergangenen Wochen ungewollt zu einer Bezugsperson geworden. «Vielleicht werde ich irgendwann von einem Beistand oder einem Vormund kontaktiert. Vielleicht sogar von der Tochter?» Oder jemand kündige die Wohnung.

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Nach weiteren zwei Wochen erhielt Frau Huber die Nachricht, dass die Abklärungen im Gang seien und sie seitens der KESB in der Sache nicht mehr kontaktiert würde. Sie solle sich aber melden, falls es wieder zu Problemen komme. Immerhin stand ein Name mit Telefonnummer dabei. Erneut wurde sie darauf aufmerksam gemacht, wegen des Datenschutzes keine weiteren Auskünfte zu erhalten.

«Bisher haben sich alle Parteien sehr vorbildlich verhalten, ich bin zuversichtlich, dass ich irgendwann über das weitere Vorgehen informiert werde. Zumindest, was unser Mietverhältnis betrifft», gibt sich Frau Huber optimistisch. Klar würde sie es begrüssen, etwas mehr auf dem Laufenden gehalten zu werden.

Es bleiben einige Fragen vorläufig unbeantwortet: Wer schaut jetzt nach Frau Kennel? Wie lange bleibt sie noch in der Wohnung? Und wer garantiert, dass sie nicht doch eines Tages den Herd an lässt und dadurch alle Mieterinnen und Mieter der Liegenschaft gefährdet? Anja Huber ist zuversichtlich, dass die KESB die Antworten dazu liefern wird.


* Namen von der Redaktion geändert.