«Ich habe mich nie hilflos gefühlt» - demenzjournal.com

Das Richtige tun

«Ich habe mich nie hilflos gefühlt»

«Was ist, wenn sie selbst Auto fahren will? Wenn sie im Internet Dinge bestellt, die niemand braucht? Wie begegnen wir dem Kaufzwang in der Migros?» Bild Véronique Hoegger

Martin Krügel stellte sich der Demenz seiner jung erkrankten Frau. Er gab einer möglichen Zukunft ein Gesicht, nutzte frühzeitig die Netzwerke und vertraute den Mitmenschen.

Martin Krügel lief mir in der Sonnweid über den Weg, als ich den Auftrag hatte, für dieses Dossier mit dem Schwerpunkt «Zu früh!» Interviews zu führen und einen Beitrag zu schreiben. Seine Frau (Jahrgang 1965) lebt in der Sonnweid, und er war bereit zu einem Gespräch mit mir.

Nach einer Stunde verspürte ich seit langer Zeit wieder einmal das Gefühl, wie es ist, wenn einer alles richtig gemacht hat. Scheinbar ist es möglich, es als Angehöriger richtig zu machen.

Aber schön der Reihe nach: Zirka ein Jahr vor der Diagnose begannen bei Krügels Frau Einschränkungen, die man nicht einordnen konnte: gestörtes Sozialverhalten, alltägliche Fähigkeiten eingeschränkt, früh ins Bett gehen. Sie war distanzlos im Sozialverhalten, aber körperlich sehr distanziert.

Niemand dachte daran, dass ihr Vater eine Demenz hatte und daran gestorben war.

Es gab in der Familie offenbar einen blinden Fleck. Es konnte nicht sein, was nicht sein darf.

Was ist in einer solchen Situation zu tun? Vielleicht: Die gemeinsame Zeit reduzieren, sich rar machen und die Kinder (13 und 15 Jahre alt) ebenfalls zu distanzierterem Verhalten anhalten? Distanz schaffen kann stressreduzierend wirken, wenigstens eine Zeit lang.

Wie bringe ich ihn dazu, sich abklären zu lassen?

Lernvideo

»Lass dich endlich abklären!«

Wie kann man Menschen mit einer beginnenden Demenz dazu bringen, dass sie freiwillig zum Arzt gehen und einer Abklärung zustimmen? Was kann man … weiterlesen

Der erste Arzt diagnostizierte eine Unterfunktion der Schild­drüse und Eisenmangel. Weder die Diagnose noch die Behandlung brachten eine Besserung. Wie auch? Der Streit nahm zu, die Konflikte auch. Und dann ist Mann halt viel weg, mehr als beruflich notwendig gewesen wäre. Auch eine Strategie.

Im Mai 2015 Anmeldung bei Irene Bopp in der Memory Clinic Waid. Abklärung, Diagnose, Klarheit. Entstressung, wenn das Kind einen Namen bekommt – und ja, natürlich, der Vater! Jetzt wird vieles klar und die Frage bleibt, warum man nicht selbst auf den Gedanken gekommen ist.

Wer übernimmt wann was, wer schaut im Restaurant, dass sie keinen Stress hat? Wohin platziert man sie, was bestellt man, und:

Wie geht man damit um, wenn es dennoch zu Situationen kommt, die man im Vorfeld nicht abfangen kann?

Wie geht man als Familie die Herausforderungen aktiv an?

Was können wir im Vorfeld tun, was könnte als nächstes kommen, welche Strategie fahren wir? Was ist, wenn sie selbst Auto fahren will? Wenn sie im Internet Dinge bestellt, die niemand braucht? Wie begegnen wir dem Kaufzwang in der Migros? Was ist, wenn sie 50 Mal telefoniert und im sozialen Umgang distanzlos ist?

Das sind alles bekannte Anzeichen und Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit einer Frontotemporalen Demenz. Im Alltag sind die Auswirkungen dramatisch. Da helfen die mit wohlmeinender, empathischer Weichspülerstimme vorgebrachten Rat-Schläge nicht weiter.

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«Ich habe mich nie hilflos gefühlt», sagt Krügel heute. «Ich habe immer Unterstützung bekommen. Ich habe immer nach Lösungen gesucht und diese auch gefunden.» Zum Beispiel an der Theaterkasse, wenn sie sich wieder vordrängte und andere verärgerte: Dann verteilte er Kärtchen mit einer kurzen Information zur Krankheit seiner Frau.

Er tat es auch im Kaufhaus an der Kasse – immer dann, wenn die Fehlleistungen so gravierend waren, dass die Mitmenschen das Verhalten unwissend und verständnislos missbilligten.

Damit entlastete er sich auch selbst, denn eine soziale Missachtung fällt auch auf die Begleiter zurück. Mitgefangen, mitgehangen!

Krügel informierte die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) von sich aus. Er sagt es deutlich: Die KESB habe ihn unterstützt, nicht entmündigt, wie viele immer wieder klagen. Gemeinsam mit seiner Familie, seinem Netzwerk und der Behörde hat er sich der Aufgabe gestellt: Wie können wir entlasten, damit es alle Beteiligten besser haben?

Frau Krügel lebt heute in der Sonnweid. Den Heimeintritt bezeichnet Martin Krügel als einschneidendes, zuerst niederschmetterndes Erlebnis. Dieses Loslassen-Müssen. Das Anerkennen, dass es zu Hause nicht mehr geht, bezeichnet er als grösste Krisensituation.

Die Besuche, sagt er, mache er mehr für sich, sie tun ihm gut. Wie seine Frau die Besuche wahrnimmt, weiss er nicht. Er geht aber davon aus, dass auch sie die gemeinsam verbrachte Zeit geniessen kann.

«Ich habe keine Freunde verloren in dieser Zeit.»

«Stress wurde mir genommen von Menschen, die ich gar nicht gekannt habe.»

«Die Kinder haben ja vermutlich die Gene auch in sich, aber die lassen sich nicht verrückt machen, sie wollen einfach leben.»

Das sind nur drei wörtliche Zitate von dem Mann, der mich sehr beeindruckt hat. Wie kann man so viel richtig machen – wo doch oft so vieles falsch läuft?

Martin Krügel stellte sich dem Menschen mit seiner Krankheit. Er gab einer möglichen Zukunft ein Gesicht, nutzte frühzeitig die Netzwerke und vertraute den Mitmenschen. Dies tat er im Wissen, dass Abschied nehmen zum Leben gehört, und nicht nur zum Tod.

Er stand zu den Gefühlen, die in solch schwierigen Situationen hochkommen. Er erkannte, dass der familiäre Rahmen nicht die allein selig machende Struktur im Krankheitsverlauf sein kann.

Abschied führt immer auch zu Neuem, zu neuen Menschen, zu neuen Dingen. Dies geschieht dann wie von selbst.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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