Das Umfeld nimmt die betreuenden Angehörigen nicht mehr als Menschen mit eigenen Wünschen, Visionen und Bedürfnissen wahr, sondern eben nur noch als betreuende Angehörige. Sie werden konfrontiert mit Vorschlägen, Besserwisserei, obwohl sich niemand mehr mit der Demenzerkrankung auseinandersetzt als sie.
Diese Tatsache wird als sehr schmerzlich erlebt. Dabei sind gerade sie auf verständnisvolle Gesprächspartner angewiesen, da sich der Partner zunehmend entfernt und weil seine Empathie, das feine Einfühlungsvermögen, das den Boden einer Beziehung legt, früh verloren geht.
Buchtipp
«Demenz. – Fakten, Geschichten, Perspektiven»
Im Buch von Irene Bopp-Kistler nennen namhafte Experten die bisher bekannten Fakten beim Namen und erläutern, was es damit auf sich hat. Betroffene und Angehörige berichten von «ihrer» Demenz und was sie mit ihrem Leben macht. Renommierte Autoren vermitteln Perspektiven auf sozial-politischer, medizinischer, vor allem aber menschlicher und spiritueller Ebene, wie wir dieser Krankheit und den Betroffenen respektvoll begegnen können. Der hier veröffentlichte Beitrag «Einmal nach nirgendwo» ist eine gekürzte Version eines Beitrages aus dem Buch. Verlag Rüffer & Rub, Zürich, 2016. Zirka 650 Seiten, CHF/€ 48
Werden Angehörige mit Ratschlägen überhäuft, ob von Freunden oder Professionellen, empfinden sie genau diese als Schläge. Man fordert sie auf, endlich für Entlastung zu sorgen, doch wie sollen sie sich Erleichterung von ihrer schweren Aufgabe verschaffen, wenn sie sich nicht verstanden fühlen? Möglicherweise wird dann gerade die aufgezwungene Entlastung zur Belastung.
Entlastung ist wichtig, doch sie muss individuell definiert werden. Angehörige sind die erfahrensten «Professionellen», durch die langjährige Betreuung sammeln sie ein Wissen an, das grösser ist als jenes von Professionellen. Dennoch bedürfen sie des Schutzes, der Zuwendung und einer Sicht von aussen, die ihren Blick für neue Lösungswege öffnet.
Entlastung kann somit bedeuten, dass Fragen angesprochen werden, die belasten, die tabuisiert sind, dass Raum gefunden wird für Themen, über die man bis anhin nicht sprechen wollte oder konnte, sei dies im Rahmen eines therapeutischen Gespräches oder im Freundeskreis.
Unklarer Verlust
Angehörige von Demenzerkrankten befinden sich in einem ständigen Wechselbad der Gefühle: Sie fühlen sich stark und schwach zugleich, sie fühlen gleichzeitig Zuneigung und Abneigung, sie trauern und haben gleichzeitig den Wunsch nach Freiheit, nach einem Leben ohne Belastungen. Dieser Wunsch nach Freiheit darf nicht gedacht und schon gar nicht ausgesprochen werden.
Vielfach werden Angehörige als Depressive abgestempelt, doch der grösste Teil von ihnen sind permanent Trauernde, die es schaffen, Stärke in einer hoffnungslos erscheinenden Situation zu zeigen.
Ein unklarer, uneindeutiger Verlust ist immer mit ambivalenten Gefühlen verbunden, und das ist normal, das ist nicht krankhaft. Als Aussenstehende sollten wir den Blickwinkel wechseln und als selbstverständlich annehmen, dass die Ambivalenz Teil des Denkens der Angehörigen ist.
Es ist normal, dass Angehörige Wut und Schuldgefühle gleichzeitig mit Liebesgefühlen erleben können. Es ist auch normal, dass in Angehörigen der Gedanke auftauchen kann: Wenn doch nur alles vorbei wäre, wenn ich doch nur wieder frei sein könnte!