Er schlägt mich - demenzjournal.com

Hautnah

Er schlägt mich

«Er zeichnet mit dem Finger Figuren in die Krümel. Häuft sie an, mit den Rinden formt er Linien, exakt, dazwischen säuberlich die kleinen Brosamen-Berge. Was geht in ihm vor? Welches Werk vollbringt er?» Bild U.Kehrli

Dieselben Hände, die mich gestern gestreichelt hatten, schlagen heute nach mir, treffen mich leicht, ich weiche aus. Schaue ihn wohl entsetzt an, er beruhigt sich.

Es ist nach zehn Uhr, meistens treffe ich Paul vormittags wach an. Er sitzt in seinem Zimmer, Reste des Frühstücks vor sich. Sonntags gibt es Zopf. Er zerkrümelt ihn zwischen den Fingern, vor ihm am Boden liegen schon eine Menge Krümel. Brotkrümel nerven ihn.

Es gab Zeiten, wo er jeden Einzelnen mit dem befeuchteten Zeigefinger aufpickte. Hausmeister haben ohnehin ein Auge für jedes Stäubchen. Berufsethos … Doch Evi kannte dieselbe Brosamen-Pickerei von ihrem Mann. Auch andere Angehörige kennen solche Ticks von ihren Partnern. Gehört wohl auch zum Krankheitsbild.

demenz.

Dieser Beitrag erschien in Irene Bopp-Kistlers Buch «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven». Hier nennen namhafte Experten die bisher bekannten Fakten beim Namen und erläutern, was es damit auf sich hat. Betroffene und Angehörige berichten von «ihrer» Demenz und was sie mit ihrem Leben macht. Renommierte Autoren vermitteln Perspektiven auf sozial-politischer, medizinischer, vor allem aber menschlicher und spiritueller Ebene, wie wir dieser Krankheit und den Betroffenen respektvoll begegnen können. (rüffer & rub Sachbuchverlag, 2016)

Heute ist wieder einmal alles anders. Ungeduldig, ja mürrisch redet Paul auf mich ein, deutet auf die Krümel am Boden, steckt noch ein Stück Zopf in die Sandale. Wieder mal rätseln, was er möchte. Den Wischer, denke ich, zusammenwischen, sauber machen.

Ich hatte ihm einen Wischer gekauft, täglich war der in Gebrauch, wie gesagt, Hausmeister … Doch Irrtum. Kaum komme ich mit dem Wischer in die Nähe seiner Krümel, fährt er mich wütend an, stupst mich weg und schlägt gegen mich aus. «Oh, tut mir so leid, Paul. Ich habe nicht verstanden.»

Langsam beruhigt er sich, beugt sich vor und zeichnet mit dem Finger Figuren in die Krümel. Häuft sie an, mit den Rinden formt er Linien, exakt, dazwischen säuberlich die kleinen Brosamen-Berge. Was geht in ihm vor? Welches «Werk» vollbringt er?

Hingebungsvoll, konzentriert werkelt er am Boden. Still sitze ich daneben. Zwischendurch lehnt er sich zurück im Stuhl, bestaunt sein Werk. Was soll ich dazu sagen? Er nimmt mich nicht wahr. Ist in einer andern Welt. Nach einer Weile steht er auf – mühsam sich an den Armlehnen aufrichtend – geht in den Korridor hinaus.

Ich bin froh, setzt er sich aufs Sofa vor dem großen Fenster. Ich lasse ihm Zeit, nehme meine Jacke, den Rucksack und folge ihm. Eine Zeitschrift liegt da, er beschaut sie und blättert darin. Blumen, Landschaften, Tiere betrachtet er gerne.

Bin so dankbar für die Betreuenden, die Paul annehmen können in seiner oft nicht einfachen Art. Aggressionen, Widerspenstigkeit, Motzen – es gilt vieles von ihm zu ertragen. Aphasie, man liest es bei der Diagnose. Denkt sich nicht viel dabei. Erst der Alltag offenbart die Grausamkeit dieses Zustandes.

Nicht verstanden werden, auch wenn man scheinbar korrekt spricht. Wenn man einen Satz x-mal sagt, der andere dennoch nicht begreift. Pauls Reden sind meistens nicht zu verstehen. Obwohl er einzelne Wörter oder gar Sätze klar aussprechen kann.

Möchte er jedoch über Gefühle, Anliegen oder Erlebtes sprechen, etwas, was ihm auf dem Herzen liegt, kommen unverständliche Worte. Ratlosigkeit, Stirnerunzeln, Kopfschütteln.

Wie muss das auf ihn wirken, wenn er unsere Hilfe sucht? Wenn wir auf seine Anliegen einfach mit Ja, Jaa oder irgendeiner Floskel antworten? Ich verstehe seine Verzweiflung, Hilflosigkeit, ja das Ausgeliefertsein an Menschen, die trotz aller Anstrengung ihm nicht gerecht werden können. Dann das Hilfesuchen bei mir, auch umsonst. Die Enttäuschung.

Es gab Zeiten, in denen er dieses von mir enttäuscht Sein gar verbal ausdrücken konnte. Es ist genau diese Tragik, die mich oft selber der Verzweiflung nahe bringt. Ihm in dieser Not nicht beistehen zu können, wie ich es möchte, treibt mich selbst oft an den Abgrund der seelischen Not.

Hilflosigkeit, Ohnmacht. Zusehen, wie er leidet. Ihn da belassen, verlassen. Nein, es ist nicht Schuldgefühl, ich wehre mich einmal mehr gegen diese Bezeichnung.

Ich versuche zu präzisieren. Es ist das Mitfühlen, Trauern, mit ihm Verbundensein. Diese Einheit, die für die Ehe steht, bedeutet auch doppeltes Leiden. Ich fühle mich nicht schuldig an diesem Zustand. Aber mit leidend. Mit tragend, mit fühlend. Doppelt eben.

Und wer tröstet mich? So wie gestern, in seinen Armen, er mich fest an sich drückend, war ich wieder hoffend, suchend, ohne zu finden. Abends alleine zu Hause, wurde mir wieder erneut bewusst, dass dieses bei ihm Trost Suchen dann vermehrt Schmerz auslöst.

Vor dem Einschlafen eine Notiz: «Dieser Schmerz!! Ach Paul – du dort – getrennt, verloren – ich, hier, alleine, verlassen. Ich liebe dich so sehr, ich vermisse dich, wenn du wüsstest …» Der Zettel sieht verbeult aus, Spuren meiner Tränen.

Interview mit unserer Tagebuchautorin Ursula Kehrli

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen


«demenz.», Fakten, Geschichten, Perspektiven
rüffer & rub Sachbuchverlag, Zürich 2016, Herausgegeben von Irene Bopp