«Ich lasse mich ganz auf ihre Welt, ihre Träume ein» - demenzjournal.com

Paul Maar

«Ich lasse mich ganz auf ihre Welt, ihre Träume ein»

Zorn, Tränen, schlaflose Nächte: Für den bekannten Kinderbuchautor Paul Maar ist es überaus schmerzlich, die Alzheimer-Erkrankung seiner Frau Nele mitzuerleben. Aber er spürt auch eine grosse Nähe zu ihr.

alzheimer.ch: Herr Maar, Sie sind seit über 60 Jahren mit Ihrer Frau zusammen. Vor mehr als vier Jahren bekam sie die Alzheimer-Diagnose. Hatten Sie vorher schon Anzeichen bemerkt?

Paul Maar: Ich merkte bei ihr eine zunehmende Unfähigkeit, sich an Namen zu erinnern, auch allgemeine Wortfindungsschwierigkeiten. Ich ahnte schon, dass es eine Demenz sein könnte, bat aber meine Frau, sich durch eine Untersuchung im Klinikum Bamberg Gewissheit zu verschaffen. Sie war einverstanden. Das Ergebnis war eindeutig.

Wie war es für Ihre Frau?

Sie nahm es mit bemerkenswerter, stoischer Gelassenheit auf und der Bemerkung: «Zusammen werden wir das schon irgendwie durchstehen.»

Paul Maar, «Wie alles kam. Roman meiner Kindheit».Buchcover S. Fischer Verlag

In Ihrem autobiografischen Buch beschreiben Sie Ihre Frau als überaus aktiv, sie war in ihrem Beruf als Psychotherapeutin sehr engagiert. Wie ist es für Sie zu erleben, dass Ihre Frau sich in eine andere Welt entfernt?

Es ist ein schmerzlicher Prozess. Er führt bei mir zu mancher schlaflosen Nacht und zu heimlichen, unterdrückten Tränen. Dann wieder zu Zornesausbrüchen – nicht gegen meine Frau, sondern gegen dieses ungerechte, impertinente, ungezogene, heimtückische Schicksal.

Hat sich die Persönlichkeit Ihrer Frau durch die Krankheit sehr verändert?

Ja, aber eher in eine positive Richtung. Meine Frau war das, was man landläufig als «herb» bezeichnet. Sachlich, dabei zugewandt, aber nie ein Schmusekätzchen. Wir verkehrten auf Augenhöhe, respektierten uns.

Jetzt ist sie die Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit in Person, umarmt mich zehnmal am Tag, schmust, legt ihren Kopf an meinen, hält lange meine Hand. Ich erlebe eine viel grössere Nähe zu ihr als früher. Ausserdem lacht meine Frau viel, ist immer gut gelaunt. Am meisten muss sie über sich selbst lachen und über die Tatsache, dass sie ein Wort sagen will und es einfach nicht über die Lippen bringt.

Sie mussten erst lernen, sich auf die Welt Ihrer Frau einzulassen. Ist Ihnen das gelungen?

Im Anfangsstadium war ich so was wie ein Hüter der Wahrheit. Wenn meine Frau mir sagte, dass wir uns beeilen müssten, um rechtzeitig am Flughafen zu sein, versuchte ich ihr klar zu machen, dass wir gar keinen Flug geplant hatten, und fragte sie, wo sie denn hinfliegen wolle. Das machte sie verlegen, weil sie keine Antwort geben konnte.

Ich muss zugeben, dass ich am Anfang auch einfach in ihre Welt eindringen wollte.

Dass es mich nicht interessierte, welchen Traum, welche Vorstellungen sie hatte. Einmal, als ich ihr vermitteln wollte, dass sie sich täuschte, dass wir keineswegs vorhatten, irgendwohin zu fliegen, sagte sie traurig: «Du willst mich immer verbessern!». Das hat mich so tief getroffen, dass ich mich fortan ganz auf ihre Welt, ihre Träume, ihre Denkweise einliess.

Paul Maar

Paul Maar wurde 1937 in Schweinfurt geboren. Nach dem Abitur studierte er an der Kunstakademie Malerei und wurde Kunsterzieher am Gymnasium. Nach sechs Jahren schmiss er die Festanstellung und wurde freier Autor und Illustrator. Sein erstes Kinderbuch, «Der tätowierte Hund», erschien 1968. Mit «Eine Woche voller Samstage» landete Paul Maar seinen ersten grossen Erfolg, das Sams wurde zur Kultfigur. In diesem Sommer ist der zehnte Band erschienen, «Das Sams und der blaue Drache».

Für sein umfangreiches Werk bekam Paul Maar viele Auszeichnungen, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis. Mehrere deutsche Schulen sind nach dem Autor benannt. Der Autor, Vater von drei Kindern, lebt in Bamberg. Seine Frau Nele ist die Schwester des berühmten Kameramannes Michael Ballhaus. Das Buch «Wie alles kam. Roman meiner Kindheit» ist im S. Fischer Verlag erschienen.

Was bedeutet das?

Wenn sie mich weckte, um mir zu sagen, dass wir uns beeilen müssen, um das Flugzeug zu kriegen, stritt ich dies jetzt nicht mehr ab, sondern sagte etwa: «Der Flug wurde verschoben. Das Flugzeug startet erst um 16 Uhr». Sie legte sich mit einem «Verstehe: verschoben!» wieder ins Bett und schlief zufrieden weiter. Um 16 Uhr hatte sie längst vergessen, was ich behauptet hatte.

Es ist schwierig für mich: Einerseits bin ich gezwungen zu lügen. Andererseits führt die Tatsache, dass ich mich in die Welt meiner Frau begebe, dazu, dass sie viel zufriedener und ausgeglichener ist.

Validation hilft, einander zu verstehen

demenzwiki

Validation

Validation ist eine Haltung und Kommunikationsform im Umgang mit Menschen mit Demenz. Wer validiert, »geht in den Schuhen des anderen«, ist empathisch und … weiterlesen

In Ihrem Buch zitieren Sie eine Reihe von Sätzen, die Ihre Frau aufschreibt und die zunächst keinen Sinn zu ergeben scheinen. Zum Beispiel: «Einer soll kommen, soll die Blüten gern immer noch tragen. Einer soll kommen nur für uns.» Können Sie manche dieser Sätze entschlüsseln?

Ihre Sätze lesen sich wie moderne, reimlose Lyrik. Sie sind poetisch. Manchmal ahne ich den Sinn dahinter, meist bleiben die Texte rätselhaft.

Weiss Ihre Frau, dass sie in Ihrem Buch vorkommt?

Als ich das Buch begann, habe ich sie um Erlaubnis gefragt. Sie hat sofort zugestimmt. «Vielleicht ist es für deine Leser interessant zu erfahren, wie sich so eine Krankheit äussert», war ihr Kommentar. In der jetzigen Phase ihrer Krankheit hätte sie meine Frage nicht mehr nachvollziehen, keine Entscheidung treffen können.

Sie werden demnächst 83. Geht es Ihnen ähnlich wie vielen Menschen mit Demenz, dass sich die Erlebnisse der Kindheit mehr in Ihr Leben drängen als früher?

Ja. Ereignisse, die kaum zurückliegen, vergesse ich schnell. Das Kurzzeitgedächtnis wird löchriger. Manchmal frage ich mich am Morgen, welchen Film wir am Vorabend im Fernsehen gesehen haben, und komme nicht darauf. Ich erinnere mich aber an den ersten Film, den ich mit zwölf Jahren gesehen habe, und kann den Inhalt erzählen.

Sie haben Ihre Frau in der Schulzeit kennen gelernt. Wie ist es für Sie, wenn sie plötzlich sagt, sie sei 17 und müsse unbedingt den Paul treffen?

Es freut mich, dass die 17-jährige Nele den Paul treffen will und nicht den Andreas oder den Robert.

Wünschen Sie sich heute manchmal Wunschpunkte, wie sie das Sams hat, um die Krankheit Ihrer Frau wegzuzaubern? 

Nein, das wäre mir zu kindisch und zu kindlich.

Denken Sie oft daran, wie es sein wird, wenn sich die Krankheit Ihrer Frau verschlimmert und ob Sie es dann noch schaffen, sie zu pflegen?

Natürlich habe ich grosse Angst davor. Das ist ein Grund für meine oft schlaflosen Nächte.

Wer kümmert sich noch um Ihre Frau, ausser Ihnen und Ihrer Tochter Katja?

Ich habe vier Pflegerinnen engagiert, Erika, Roswitha, Doris und Elvira. Sie kommen an unterschiedlichen Wochentagen und unterstützen Katja und mich, mal am Tag, mal in der Nacht.

Haben Sie selbst Angst, an Demenz zu erkranken?

Ja, schon. Aber ich hoffe der Krankheit zu entgehen, indem ich geistig möglichst aktiv bleibe.

Ist die Welt der Bücher und des Schreibens für Sie auch eine Möglichkeit, von der Krankheit Ihrer Frau Abstand zu gewinnen, sich ein Stück weit zu entziehen?

Als Kind habe ich mich aus einer unfreundlichen Welt gerettet …

Sie mussten im Krieg mit der Familie mehrfach in den Luftschutzkeller, um sich vor Bombenangriffen zu schützen. Als Ihr Vater aus der Kriegsgefangenschaft wiederkam, war er sehr verändert, gebrochen und aggressiv, er hat Sie oft geschlagen.

Richtig. Ich habe mich gerettet, indem ich in einem Buch, in einer Geschichte versank und die Umgebung ausblendete. Das Lesen hat mich gerettet. Heute versinke ich beim Schreiben in diese andere Welt.