Zuhause bis zuletzt – jetzt erst recht!? - demenzjournal.com

Pflege zu Hause

Zuhause bis zuletzt – jetzt erst recht!?

Die Coronakrise hat die Situation für zu Hause pflegende Angehörige massiv verschlechtert. Bild PD

Erika F. (75) ist chronisch krank und pflegt zu Hause ihren demenzkranken Mann (88). Jetzt kann sie weder selbst in die Therapie gehen noch externe Dienste beanspruchen. Es darf jetzt nichts passieren, sonst passiert etwas.

Schon vor der Coronakrise war das Versprechen an Angehörige, dass sie bis zuletzt zu Hause bleiben dürfen, problematisch. In manchen Fällen wurde es gegeben mit dem Zusatz «…solange ich es schaffe.»

Jetzt – während Corona – wird die Erfüllung des Versprechens für ein Leben (und Sterben) zu Hause massiv problematischer. Ich möchte am Beispiel von Erika F. (Name geändert, Situation real) die Herausforderung illustrieren.

Die Belastung der Angehörigen steigt

Erika F. ist Mitte 70, sie betreut und pflegt ihren mittlerweile fortgeschritten demenzkranken Mann zu Hause, er ist Ende 80. Bislang hatte sie nach langem Ringen mit sich selbst einige wenige Stunden Entlastung im Haushalt und in der Betreuung pro Woche bekommen.

Die Teilnahme an einer Angehörigengruppe hatte sie schon länger beendet. Sie gehört zu jenen, die davon nicht profitieren, sondern eher noch belastet werden von den Problemen der anderen. Alle Verwandten der beiden sind weit weg oder haben keinen Kontakt.

Erika F. ist selbst chronisch krank und leidet unter ständigen Schmerzen. Sich um ihre Gesundheit fundiert zu kümmern, war ihr durch die Betreuung nicht möglich.

Nun verschärft sich alles: Die externen Dienste hat Erika F. aus Angst vor Ansteckung sofort storniert. Ehrenamtliche dürfen nicht mehr kommen, beziehungsweise nur zum Einkaufen einmal wöchentlich.

Seit dem Beginn der «sozialen Distanz» war Erika F. nicht mehr im Freien unterwegs und hat nur zwei Personen auf Distanz gesehen. Kleine Ausflüge «in die Welt da draussen», eine Runde um den Park sind nicht möglich.

Ihre Schmerzen werden stärker, da sie keine Therapien in Anspruch nehmen kann.

Untersuchungen sind bis auf unbekannte Zeit abgesagt. Telefonate können ein bisschen aufheitern – aber das Wissen, in der Situation ohne echten Ausweg gefangen zu sein, können sie nicht nehmen. Wie ihr Mann auf das Wegbleiben der Alltagsbetreuerin reagiert, die mit ihm Reisen im Atlas unternommen hatte, ist schwer zu sagen – er spricht weniger denn je.

Die Auswege verschliessen sich

«Vor Corona» hatte Erika F. sich bereits Seniorenwohnhäuser angesehen für den Fall, dass es zu Hause nicht mehr zu stemmen sei oder sie selbst einen Krankenhausaufenthalt braucht. Natürlich ist diese Tür derzeit verschlossen – die Einrichtungen nehmen niemanden auf und selbst wenn: Sie dürfte ihren Mann nicht besuchen, müsste ihn sozusagen «abgeben», der Kontakt nach der so intensiven, intimen Zeit wäre schlagartig gekappt.

Dabei hat Erika F. noch so etwas wie Glück. Noch dramatischer stellt sich die Lage für all jene derzeit dar, die ihr Versprechen «zu Hause bis zuletzt» mit einer 24 Stunden-Personenbetreuerin umgesetzt haben. Die meisten der Frauen aus süd-/ osteuropäischen Ländern kommen nicht, einzelne werden derzeit in Sonderflügen wieder ins Land geholt, müssen aber zuerst in Quarantäne. Für jene, die über die üblichen zwei Wochen hinaus im Land bleiben, gibt es finanzielle Anreize und Sonderregelungen.

Aber wie lange werden sie durchhalten? Wer von ihnen wird die eigene Familie für lange Zeit zurücklassen?

Für sehr viele der von ihnen in Österreich betreuten Menschen (es sind übrigens 33’000) ist damit nicht nur eine Bezugsperson, sondern ein ganzes «Care Setting» verschwunden.

In vielen Fällen springen wohl Angehörige ein – die populäre Sprechweise dazu ist: «Sie haben ja jetzt eh Zeit.» Das stimmt aber natürlich für viele so nicht. Etwa für jene, die sich jetzt auch um Kinder und deren Schulunterricht kümmern müssen.

In vielen Fällen war ja nicht die Zeit ausschlaggebend für die externe Betreuung sondern einer von vielen anderen Gründen. Zu untersuchen wäre eines Tages, wie oft die Aufgabe wieder ganz «automatisch» an Frauen fällt in diesen Tagen.

Die Seniorenwohnhäuser in Österreich waren schon vor Corona sowohl überlastet und von Personalmangel geplagt, wie die mobile Betreuung auch.

Was passiert, wenn in einer Einrichtung erstmal jemand infiziert ist, haben wir in den Nachrichten ja mit Schrecken gelesen. Auch bei besten Prozessen und Vorkehrungen: Kein Ort, der sich derzeit als Ausweg anbietet.

Von Krisen zu Katastrophen?

Die grösste Angst von Erika F. ist derzeit, dass ihr Mann erkrankt oder sich verletzt. Es muss ja nicht Corona sein. Jedes Ereignis, das eine Fahrt ins Krankenhaus verlangt, würde, so ist sie sicher, das Ende für ihn bedeuten.

Waren zu Beginn der Corona-Eindämmung noch Besuche im Krankenhaus für Kinder, Palliativpatienten und Patienten mit Demenz erlaubt, so sind auch diese mittlerweile untersagt.

Nicht einmal im Rettungswagen dürfte sie ihn begleiten.

Selbst in den «demenzfreundlichen» Krankenhäusern wurden Massnahmen zur Delir-Prävention teilweise gestoppt. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie für eine desorientierte Person unter diesen Bedingungen eine Krankenhauseinweisung verläuft.

Den entlastenden Spaziergang im Park kann Erika F. nicht mehr unternehmen.Bild PD

Wenig überraschend, dass die Meldepflicht für freiheitsbeschränkende Massnahmen ausgesetzt wurde. Aber ein Delir lässt sich nicht durch Gurte oder Haldol (Neuroleptika) abhalten, sondern höchstens verschärfen): Es stellt für vulnerable Menschen eine tödliche Gefahr dar.

Auf der Intensivstation  beziehungsweise unter Beatmung mit Covid19, so wissen wir aus China, steigt die Delirrate von Menschen mit Demenz gegen 100 Prozent. Erika F. hat also durchaus recht: Es darf nichts passieren, sonst passiert etwas.

Palliation nur für das Lebensende

Wir haben Glück und Erika F. hat Glück – wir leben in einer Weltregion mit einer Palliativ-Kultur, die auch in dieser Zeit etwas anzubieten hat. Nicht für die tägliche Belastung in der Betreuung (hier sind Politik und Träger noch ziemlich planlos und die Zivilgesellschaft ist «abgemeldet» jenseits des Einkaufens). Aber zumindest für das Lebensende.

→ Wie die Bloggerin Peggy Elfmann und ihre Kinder Oma und Opa aufmuntern

→ Die Schriftstellerin Esther Spinner über ihre «Coronahaft»

→ Wie Sie in der Isolation ihre Psyche stärken

→ Tipps für die Betreuung und Pflege zu Hause

Erika F. etwa hat mit ihrem Arzt, einem Palliativmediziner, gesprochen. Er hat sie darin bestärkt, dass ihr Mann im Fall einer Erkrankung auch von einem Palliativteam zu Hause betreut werden könnte und eine Beatmung oder ähnliche Massnahmen nicht zwingend notwendig ja gar nicht zielführend wären. Es bleibt noch genug Sorge übrig – aber sie hat jemanden an der Seite, der mit ihr Entscheidungen abwägt und sie unterstützt.

Dr. Roland Kunz hat die spezielle Situation der Zielgruppe mit Kollegen in einer Empfehlung der Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie festgehalten: «Von den beatmeten hochaltrigen Patienten mit aktem Lungenversagen überleben aus Erfahrung der Intensivmediziner nur ganz wenige. Deshalb ist die Indikation für eine Krankenhauseinweisung von multimorbiden alten Menschen mit einer Covid-19-Erkrankungsehr sorgfältig abzuwägen.»

Hier zeigt sich nun der Wert von palliativen Angeboten für den häuslichen Bereich: Mobile Dienste, Beratung etwa am Pallifon (Schweiz), Unterstützung durch palliativ geschulte Ärzte, und vor allem Sensibilität und Wissen um die Fragestellungen und Angebote sind nun kritischer denn je.

In Österreich hat das Rote Kreuz die Situation ebenfalls in den Fokus genommen und arbeitet an einem speziellen Angebot für hochaltrige Covid-19-infizierte Personen, das eine Krankenhauseinweisung und die Gefahr eines Delirs vermeiden hilft.

Bis das organisatorisch «steht» sei jedenfalls den Angehörigen empfohlen, die wichtigsten Informationen knapp zusammenzufassen. Im Internet gibt es dazu mehrere Vorlagen.

Wege ohne Landkarte

Was jedenfalls sicher ist: Wir haben keine Landkarte für die aktuelle Situation. Selbst gute Ideen, guter Wille, Zivilgesellschaft scheitern an der brutal-nötigen Logik der Distanz. Neben der unglaublichen Leistung von Pflege- und Medizinpersonal bleibt uns vor allem eine Hoffnung: die Resilienz. Sowohl der alten Menschen («Wir haben eh schon einen Krieg überlebt.») als auch die der Angehörigen. Und die unserer Palliativkultur und -ausstattung, die sich nun bewähren müssen.

Hoffen wir, dass wir «danach» Zeit für Reflexion und Anpassungen haben.

Erholungsangebote für die Angehörigen, die das Zuhause bis zuletzt auch in dieser Extremsituation getragen haben. Und Begleitung statt Vorwürfe für jene, denen es nicht gelingt und die das grosse Versprechen in diesen Tagen brechen müssen.