«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen» - demenzjournal.com

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Die 83-jährige Ursula Kehrli hat ihren an Demenz erkrankten Ehemann Paul fünf Jahre lang zuhause betreut, danach verbrachte er vier Jahre in einem Heim. 2015 ist er gestorben. Seit 2017 lebt Ursula Kehrli wieder in einer Beziehung. Bild Marcus May

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? Was löst die Weihnachtszeit in ihr aus?

alzheimer.ch: Vor ein paar Tagen haben wir die 50. Folge deines Tagebuchs veröffentlicht. Wie fühlt sich das an?

Ursula Kehrli: Es macht mir Freude, dass meine Tagebuchnotizen tatsächlich gelesen werden. Meine ursprüngliche Hoffnung, anderen betroffenen Angehörigen mit meiner Geschichte eine Stütze zu sein, scheint sich zu erfüllen. Die Rückmeldungen und Kommentare bestätigen das.

Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen und kann ihnen das Gefühl vermitteln, mit ihrer Last und ihrem Schmerz nicht allein zu sein. Ich sage Dinge, die sie selbst so nie ausdrücken könnten. Vielen wird beim Lesen auch erst der Druck bewusst, unter dem sie täglich stehen.

War es für dich ein Ventil, als du mit dem Schreiben dieses Tagebuchs anfingst? Immerhin bedeutete es, dass du dir fast täglich Zeit dafür Zeit nehmen musstest. Würdest du diese Art der Verarbeitung weiter empfehlen?

Für mich war das Schreiben hilfreich, ich habe schon immer geschrieben, auch beruflich.

Ich hatte viel zu sagen, also schrieb ich es auf. Auch um meine Umgebung zu schonen.

Wen interessiert das schon im Detail, dachte ich mir. Durch das Aufschreiben hatte ich immer einen Zuhörer. Statt ständig zu beten, habe ich einfach alles aufgeschrieben.

Ich glaube im Gespräch mit meinen Nächsten hätte ich vieles gar nicht so ausdrücken können. Als mein Sohn zum ersten Mal meine Notizen las, war er entsetzt. Er konnte nicht glauben, was er da las. Nie und nimmer habe er realisiert, in welch täglicher Not ich mich damals befand. Es gelang mir anscheinend gut, den Schmerz bei mir zu behalten.

Eine aktuelle Folge aus Frau Kehrlis Tagebuch

Das Tagebuch (50)

Festgezurrt

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Du bist ein sehr musischer Mensch, du spielst Cello, du nähst kunstvolle Gegenstände und du schreibst. Hat dir das geholfen in dieser schweren Zeit, als Paul noch zuhause lebte?

Wenn mir alles zu viel wurde, flüchtete ich mich in das Musikzimmer und spielte Etüden herunter. Am Anfang ging das noch, später, als ich ständig damit rechnen musste, dass Paul davonläuft, hatte ich auch dafür keine Zeit mehr. Und geschrieben habe ich dann, wenn ich auf dem Zahnfleisch lief, also eigentlich fast täglich.

Wir fanden es sehr mutig von dir, dass du dich dazu entschlossen hast, dein Tagebuch öffentlich zu machen. Würdest du es heute wieder tun?

Ja, ganz sicher, die Reaktionen der Leserinnen bestätigen das. Ich hoffe, dass ich damit dazu anrege, viel früher Hilfe zu suchen, als ich es damals tat. Im Nachhinein muss ich mir eingestehen:

Ich habe viel zu spät erkannt, wie sehr man als Angehöriger in Anspruch genommen wird, wie man von dieser Krankheit geradezu fertig gemacht wird.

Wenn man Zeuge sein muss, wie ein geliebter Mensch in diesen reissenden Strom sinkt und die Hand, die verzweifelt aus den Fluten ragt, unerreichbar bleibt. Diese Erkenntnis war jedes Mal ein ganz schlimmer Moment.

Gerade in den aktuellen Folgen deines Tagebuchs wird man Zeuge eines solch schlimmen Moments: Paul kommt in ein Heim, wo er schlecht behandelt wird und wo du mit deinen Anliegen und Reklamationen auf taube Ohren triffst.

Ich habe immer daran geglaubt, dass ich es schaffen würde, meinen Mann nie in ein Heim geben zu müssen. In meiner Hoffnung liess ich mich von den wenigen Fällen, wo das gelang, dazu verleiten – wenn die das schaffen, schaffe ich es auch. Ich wollte das dem Paul schenken.

Es schliesslich nicht zu schaffen, war für mich ein Versagen, ich fühlte mich unfähig. Dabei hatte ich es einfach unterschätzt. Heute weiss ich, dass es praktisch unmöglich ist, bis am Schluss zuhause zu bleiben, mit einigen wenigen Ausnahmen, die meiner Meinung nach viel zu sehr hochgelobt werden.

Heute weiss ich auch: Diese Krankheit lässt sich als Angehöriger nicht allein bewältigen.

Anders als ich es damals tat, rate ich dazu, sich frühzeitig um einen Heimplatz zu bemühen, den man dann genauer unter die Lupe nehmen sollte. Ich unterliess das damals, weil das wie das Eingeständnis einer Niederlage schien.

Also musste umständehalber alles sehr schnell gehen. Hast du das erstbeste Heim gewählt?

Meine Freundin und ich wählten besagtes Heim aus, weil wir nach einem Besuch dort beide ein gutes Bauchgefühl hatten. Das ist ja das Absurde daran: Herausgekommen ist das Gegenteil. Ich nehme diese Schuld auf mich. Denn hätte ich die Richtlinien der Memory-Klinik befolgt und mich frühzeitig darum gekümmert, wäre das alles nicht passiert …

Paul verstarb 2015, das ist jetzt vier Jahre her. Gerade bist du aus eurem Haus in eine Wohnung ins Nachbardorf gezogen. Du konntest endlich loslassen. Es hat lange gedauert, doch du hast dich erholt, du lebst wieder.

Das ist ein Geschenk, eine Gnade. Ich habe einige Beispiele erlebt, wo die Frau nicht mehr auf die Beine kam. Nach der Beerdigung war mir bewusst geworden, dass nicht nur Paul erlöst wurde. Ich musste mir eingestehen, dass das auch für mich galt.

Als ich das kommunizierte, wurde ich teils schräg angeschaut. Doch wenn man ehrlich mit sich selbst ist, darf man so etwas sagen.

Denn ich hatte ja alles erduldet, alles Menschenmögliche für ihn getan. Jetzt war wieder ich an der Reihe.

Ich gab meinem Alltag wieder eine Struktur, spielte meine Musik und ging viel Wandern. Ich pflegte wieder alte Freundschaften und ich hatte unseren Garten, der jetzt meiner war und mir viel Arbeit bescherte.

Ich wagte mich wieder unter die Leute, sehnte mich vor allem nach Kameradschaft. Eines Tages traf ich Ernst und es wurde sogar eine Beziehung daraus. Die Lebensfreude kehrte zurück.

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Die Festtage stehen vor der Tür, was für Erinnerungen weckt das?

Im Heim war es schwierig, Paul hatte ständig seine eigenen Ideen und konnte nie stillsitzen. Also war das Fest fast immer mit viel Stress verbunden. An die Jahre, als er noch zuhause lebte, mag ich mich kaum erinnern, das blende ich lieber aus. Es bringt wenig, darüber nachzusinnen, es tut einfach weh.

Vielleicht bin ich eine Meisterin darin geworden, doch ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin, über gewisse Dinge zu viel nachzudenken. Auch als ich vor ein paar Wochen meinen Hausrat zügelte: Ich ging lieber Schachteln packen, als unserer gemeinsamen Vergangenheit in diesem Haus nachzuhängen. 

Aber um nochmals darauf zurückzukommen, wie ich es geschafft habe, zurück ins Leben zu kommen:

Was mich in dieser ganzen Zeit immer wieder gerettet hat, ist mein Glaube an Jesus Christus, von ihm habe ich viel Kraft bekommen.

Weihnachten hat nichts mit Bescherung und Brimborium zu tun, sondern damit, Jesus zu gedenken, der auf die Welt gekommen ist, um uns zu helfen. Und diese Einladung ist offen.

Wie alles begann ... plötzlich war da Mann B

«Die Aufzeichnungen meines Tagebuchs sind ehrlich, spontan, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners.

Anlass dazu gab mir Anni, eine Angehörige im Heim, die alle weinenden Neuankömmlinge umarmte und tröstete. Sie ermutigte mich, meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Mögen diese Tagebucheinträge  Menschen in ähnlicher Situation helfen.

Es ist mein Wunsch, all jenen eine Stimme zu geben, die sich als «Versager» quälen, sich vielleicht auch an den bekannten Bildern der sich bis-zum-geht-nicht-mehr Aufopfernden messen, diesen «Fähigen», wie es oft scheinen mag, die immer alles richtig machen: mit Engelsgeduld und der Kunst der Validation.

Es begann schleichend, mit Ratlosigkeit und vielen Fragezeichen. Da gab es Streit um nichts, plötzliche Anschuldigungen, ein Überschütten mit aus dem Blauen kommenden Vorwürfen und Behauptungen.

Ich hatte einen anderen Mann vor mir, Mann B. Immer häufiger stand dieser Fremde vor mir, mein Alltag war erschüttert. Die Feste und Geborgenheit meines Lebens zerbröckelte.» (Ursula Kehrli)  Hier können Sie weiterlesen.