«Edith liebe ich und für Anna sorge ich» - demenzjournal.com

Liebe im Alter

«Edith liebe ich und für Anna sorge ich»

Louis (79) liebt zwei Frauen. Anna hat eine schwere Demenz und lebt im Heim. Edith hat er beim Tanzen kennengelernt. Seither sind die beiden unzertrennlich. Dennoch gehen sie pragmatisch mit ihrer Liebe um.

Der 79-jährige Louis G. Ist seit 51 Jahren verheiratet, er ist zweifacher Vater und Grossvater. Seine Ehefrau Anna (75) lebt seit über zwei Jahren im Pflegeheim. Die Krankheit war schleichend über sie gekommen, über viele Jahre hinweg. Irgendwie war es Louis gelungen, über ihre Vergesslichkeit, ihr langes Schweigen und die vielen Gespräche, die gar keine waren, hinwegzusehen.

Nach der Diagnose Alzheimer im mittleren Stadium ging dann alles sehr schnell. «Vielleicht habe ich vieles auch verdrängt», sagt Louis heute.

An einem Tanzanlass für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen lernte der passionierte Tänzer die 81-jährige Edith aus Basel kennen, die mit ihrem demenzkranken, inzwischen verstorbenen Ehemann eine ähnliche Geschichte wie Louis durchmachen musste. Mittlerweile sind die beiden ein Paar.

Louis lebt in einer geräumigen, wunderschön gelegenen 3-Zimmer-Wohnung in Zürich, wo er den grössten Teil seiner Ehe verbracht hat. Tochter und Enkelkinder wohnen im selben Haus. Das Pflegeheim ist nicht weit weg und gut erreichbar.


alzheimer.ch: Louis, Sie lieben zwei Frauen?

Louis G: Ja. Edith liebe ich, für Anna sorge ich. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe meine Ehefrau immer noch sehr gern. Doch als ich beim Tanzen Edith in meinen Armen hielt und wir uns dabei angeregt unterhielten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wie viele Jahre habe ich auf dieses Gefühl verzichten müssen?

Es traf uns wie der Blitz, es war Liebe auf den ersten Blick, auch wenn es etwas abgedroschen klingt … Wir litten nach dieser ersten Begegnung unter den üblichen Symptomen Frischverliebter, von jauchzend bis zutiefst betrübt, bis wir am übernächsten Tag endlich Kontakt aufnehmen konnten. Von da an ging es nur noch voran. Inzwischen gibt es kein Zurück mehr.

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Und Ihre Ehefrau im Heim?

Natürlich nagte es an mir. Doch ich hatte nie ein schlechtes Gewissen. Die ersten Monate, nachdem sie ins Heim gezogen war, fand ich mich unversehens ganz allein wieder.

Ich sass einsam am Küchentisch oder spazierte im Nebel am See und fragte mich, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen sollte.

Natürlich besuchte ich sie regelmässig, doch wenn es mir schlecht ging, fiel mir auch das zunehmend schwerer.

Meine Tochter ermunterte mich, all die Orte, die ich während meiner vielen und langen Aufenthalte im Ausland kennen- und lieben gelernt habe, aufzusuchen. Doch dazu hatte ich keine Lust. Vor allem nicht allein. Also fing ich mit dem Tanzen an, auch der Fitness zuliebe.

Ich besuchte Tanzanlässe für Senioren und merkte dabei, dass ich wieder bereit und offen dafür war, neue Menschen kennenzulernen. Ich suchte Gespräche, Begegnung und Austausch. Etwas, das ich sehr lange missen musste. Es ging mir nicht um Sex, ich hatte vor zehn Jahren eine Operation an der Prostata.

Es gelingt Ihnen also, diese beiden Geschichten zu trennen?

Eigentlich schon. Wissen Sie, ich habe eine Frau und trotzdem keine. Sie ist zwar noch hier, aber sie kann mir kein Gegenüber mehr sein. Es ist ein Abschied in Raten. Sie wollte sich nicht von mir abwenden, die Krankheit hat das getan. Körperlich ist sie zwar noch da, doch die Person, die ich kannte, gibt es nicht mehr.

Dennoch liebe ich sie und ich kümmere mich um sie. 

Ich kann sie doch nach 50 Jahren nicht im Stich lassen! Wir haben so viel Schönes miteinander erlebt.

Hier ist Edith sehr deutlich: Sie besteht darauf, dass sie nach meiner Frau und den Kindern erst an dritter Stelle kommt.

Den Leuten in meinem Umfeld mache ich klar, dass ich verheiratet bin und eine Freundin habe, und dass meine Frau mit einer Demenz im Heim ist.

Was hat sich verändert?

Vieles hat sich verändert. Ich spüre das Leben wieder, ich vegetiere nicht mehr vor mich hin. Ich habe damit begonnen, Sachen wegzugeben und alte Fotos zu sichten, selbst wenn schmerzhafte Erinnerungen hochkommen.

Und Edith macht mir Mut. Genauso, wie ich ihr Mut machen kann. Wir verstehen uns auf einer Ebene, wie ich es vorher noch nie erlebt habe. Wir lachen und weinen zusammen, wir teilen ein ähnliches Schicksal. Durch den Austausch von Erinnerungen gelingt es uns, Abschied zu nehmen und gleichzeitig unser neues Leben zu umarmen.

Wenn mich die Traurigkeit überfällt, habe ich ein Gegenüber.

Ich kann sie anrufen oder steige einfach in den Zug und fahre zu ihr; und umgekehrt genauso. Anfangs haben wir immer wieder diskutiert, ob wir das tun dürfen.

Wir sprachen über Treue und Eheversprechen und fragten uns, wie wir das alles unter einen Hut bringen sollten. Mit diesem inneren Zwiespalt müssen wir wohl leben.

Eine Situation, die nur Gewinner kennt, wenn man das in diesem Zusammenhang überhaupt so sagen darf?

Es ist mehr als das! Für Edith und mich sowieso, doch die ganze Familie hat etwas davon! Auch meine Frau: Ich bin mir sicher, sie spürt, dass es mir gut geht. Und es macht mir wieder Freude, sie zu besuchen, für sie da zu sein, mit ihr Zeit zu verbringen.

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Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Es ist ein anderer Geist eingekehrt. Die Tochter ist froh, wenn sie nicht dauernd einen muffigen Vater vorfindet und die Enkelkinder haben wieder einen aufgestellten Opa. Es ist eine Entlastung für alle – sowohl meine Kinder als auch Ediths Sohn freuen sich über unsere Freundschaft und können auf diese Weise ein Stück Verantwortung an uns zurückgeben.

Ist es zu einer Begegnung der beiden Frauen gekommen?

Nein. Ich habe es meiner Frau nicht erzählt, ich weiss nicht, wie sie reagieren würde. Dennoch schliesse ich eine Begegnung nicht aus, will es aber nicht forcieren. Es hat sich einfach noch nicht ergeben.

Habt ihr noch Pläne?

Wir reisen gerne und haben viele Ideen, was wir unternehmen könnten.

Für uns zählen der Moment und die nahe Zukunft, wir nehmen es, wie es kommt.

Und wir möchten noch, so gut es geht, unsere Wünsche erfüllen.

Hat man in Eurem Alter noch den Wunsch, gemeinsam zu wohnen?

Natürlich sprechen wir darüber. Aber wir haben beide ein Senioren-Abo der Bahn und sind für einander eingerichtet. Sie ist bei mir oder ich bei ihr, das geht eigentlich gut so. Mein Vater sagte immer, einen alten Baum könne man nicht verpflanzen, ich bin da nicht ganz einverstanden. Aber wir gehen die Sache pragmatisch an.

Welchen Rat würden Sie geben, wenn jemand in eine ähnliche Situation wie Sie gerät?

Der darf glücklich sein, dass ihm so etwas wiederfährt! Edith und ich, wir sind uns zugefallen. Man muss sich überwinden, hinausgehen, etwas unternehmen. Man darf sich nicht der Traurigkeit und dem Schmerz ergeben. Begegnung, Nähe und Austausch sind wichtig, um der Einsamkeit zu entrinnen. Das Leben geht weiter…