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Keine Bevormundung oder Überbehütung

Zoë Campbell von Alzheimer U.K. – Das Projekt «Side by Side» stärkt die Leitgedanken einer demenzfreundlichen Gesellschaft. Bild M. Klimmer

Menschen mit Demenz werden kaum als Akteure mit Selbsthilfepotenzial und eigenen Lösungskompetenzen wahrgenommen. Bei Unterstützungsangeboten sollte dies jedoch stärker berücksichtigt werden. Die Briten zeigen, wie es geht.

Mit gerade einmal 58 Jahren erhielt Peter Lyttle die Diagnose vaskuläre Demenz. Er war sehr verzweifelt und wollte sich das Leben nehmen. Dann traf er beim Frühstückscafé auf Elaine von «Side by Side», einer Initiative der Britischen Alzheimer Gesellschaft. 

Das halbstündige Gespräch mit Elaine habe ausgereicht, um in seinem Leben wieder «ein Licht anzuknipsen», berichtete Peter Lyttle am Alzheimer Europe Congress in Berlin.

Sein anfänglicher Widerstand, Hilfe anzunehmen habe sich gelegt, als er spürte, dass man ihn nicht beschämte und bevormundete. Vielmehr habe man ihm ungeahnte Möglichkeiten aufgezeigt, sein Leben auch weiterhin inmitten der Gesellschaft gestalten zu können.

Peter LyttleBild M. Klimmer

Heute hält Peter Lyttle Vorträge vor Medizinstudenten und auf Kongressen, unterhält ein eigenes Demenzcafé, nimmt am Vereinsleben teil und engagiert sich für ein demenzfreundliches Gemeinwesen.

Die «Alzheimer Gesellschaft des Vereinigten Königreichs» etabliert seit 2014 «Side by Side», ein Netz lokaler Angebote für Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige. Inzwischen gibt es rund 350 solcher Angebote.

Die Initiative stellt Menschen mit Demenz freiwillige Helfer an die Seite, die ihnen ermöglichen, Einsamkeit und Isolation – bedingt durch kognitive Einschränkungen und gesellschaftliche Stigmatisierung – zu überwinden, aktiv zu bleiben und das gewohnte Leben weiterzuführen. 

Erfreulicherweise ist die Nachfrage junger Erwachsener nach freiwilligem Engagement bei «Side by Side» erstaunlich hoch. Damit stärkt «Side by Side» die Leitgedanken einer demenzfreundlichen Gesellschaft.

Zoë Campbell, die Verwaltungsdirektorin der Alzheimer Gesellschaft Grossbritanniens sagt im Interview: «Unsere «Side-by-Side»-Berater sind geschult, den Menschen aufzuzeigen, wie wir helfen können, welche Vorteile sie mit einer Inanspruchnahme von Angeboten haben.» Zu Beginn einer Demenz und mit Erhalt der Diagnose sei Unterstützung wichtig, gerade daran fehle es aber oft.

Die Idee von «Side by Side» ist dem «Triage-Ansatz» entlehnt, bei dem sich die medizinische Ersteinschätzung und medizinische Erstbehandlung im Falle einer grossen Anzahl an Verletzten vorrangig am Schweregrad der körperlichen Beeinträchtigung orientiert.

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Der Triage-Ansatz von «Side by Side» bemisst Hilfe an der Selbsteinschätzung und den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz und deren pflegenden Angehörigen, sagt Zoë Campbell. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle beraten sich mit ihnen, wie sie diese konkret unterstützen können, ob nur eine kurzfristige Intervention ausreicht oder eine intensive Begleitung notwendig ist, denn «nicht jede Form der Ansprache ist für jeden geeignet», so Campbell.

Das bestätigt auch Linda Örulv, Ph.D., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Wohlfahrtsstudien, Abteilung Alterung und Sozialer Wandel an der Linköping Universität in Schweden, und am ebenfalls dort ansässigen Zentrum für Demenzforschung.

Sieben Jahre lang hat Linda Örulv die Bewältigungsstrategien von Selbsthilfegruppen empirisch untersucht.

«Gerade im frühen Krankheitsstadium können sich Menschen mit Demenz erfolgreich gegenseitig unterstützen, für einander eintreten, Lösungen entwickeln und sich ohne Intervention von aussen organisieren.»

Linda Örulv

Das Gelingen von Bewältigungsstrategien sei keineswegs kognitions- oder interventionsabhängig. Es sei falsch anzunehmen, Menschen mit Demenz hätten sehr viel Unterstützung nötig, um überhaupt an Gruppenaktivitäten teilnehmen und Probleme gemeinsam bewältigen zu können.

Das bedeute aber nicht, dass professionelle Unterstützung generell überflüssig sei. «Menschen mit Demenz brauchen ermöglichende Rahmenbedingungen, damit sie sich mit Ihresgleichen austauschen können. Sie benötigen Unterstützung, keine Bevormundung oder Überbehütung», so Örulv.

«Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz haben den Vorteil, dass sie keinem speziellen Protokoll folgen. Das erlaubt den Beteiligten, eine eigene Stimme zu entwickeln. Im Vordergrund stehen gegenseitige Ermutigung und Unterstützung. Beschämung wird stets vermieden», sagt Örulv. 

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In ihrer aktuellen Studie zeigt sie anhand von Beispielen auf, dass Menschen mit Demenz sehr wohl in der Lage sind, eine in Schieflage geratene Situation gemeinsam zu meistern:

Verliert ein Teilnehmer im Gruppengespräch den Faden

  • wird die Unterbrechung zugelassen, oder man spricht in der übrigen Gruppe weiter.
  • versucht man, den Faden gemeinsam wiederzufinden.
  • haken die anderen ein und stellen Fragen zum Thema.
  • bittet er die anderen um Unterstützung.

Kommen Ärger oder Frustrationen zu Tage

  • werden diese Gefühle ausgedrückt. Man spricht gemeinsam über Frustrationen in Bezug auf die Demenzerkrankung, über frustrierende Erfahrungen mit anderen Menschen oder das Gesundheitssystem.
  • werden diese gemeinsam lachend, mit Humor und manchmal mit Sarkasmus bewältigt.
  • werden diese solidarisch geteilt. Man hilft sich gegenseitig, vermittelt, steht sich bei.

Sind starke Emotionen im Spiel

  • unterstützt man sich mit einem ermutigenden Themawechsel.
  • hilft man mit Humor nach.
  • validiert man diese Gefühle durch den Austausch von Erfahrungswissen.

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Die Art der Bewältigung bleibt vielfältig und orientiert sich an der Perspektive der Betroffenen. Örulv sieht hier einen weiteren Vorteil von Selbsthilfegruppen: Menschen mit Demenz erfahren sich selbst als Akteure, die Einfluss nehmen und sich Gehör verschaffen können.

In Grossbritannien ist eine sehr ausgeprägte Selbsthilfebewegung von Menschen mit Demenz in Gang gekommen.

Immer neue Gruppen mit immer mehr Teilnehmern entstehen. Das Motto: «You alone can do it, but you cannot do it alone» (Du allein kannst es machen, aber du wirst es nicht allein schaffen).

In Schottland hat sich eine Demenzarbeitsgruppe der Einflussnahme auf die Politik und die Wahrnehmung von Menschen mit Demenz verschrieben. Auch das internet-basierte Networking findet grossen Zuspruch.

Linda ÖrulvBild M. Klimmer

Dort engagieren sich Anwälte mit Demenz und andere Wegbereiter, welche die Hürden eines Alltags mit Demenz nicht nur kennen und aussprechen, sondern auch beseitigen wollen.

«Vielleicht kann die Diagnose eine Schlüsselrolle einnehmen, um nicht nur Krankheitsprobleme zu meistern, sondern auch um zu einer Einordnung der Situation und zu einem neuen Sinn zu finden», sagt Linda Örulv. Diagnosen könnten daher beides sein: Bedrohung und Befähigung.

Finden Menschen mit Demenz zu einer Art «Normalität» zurück, könnten sie auch ihre «Krankheitsidentität» besser annehmen und zu neuen, sinnstiftenden Aufgaben finden. Dabei können Selbsthilfegruppen sehr unterstützend sein, so die schwedische Wissenschaftlerin.

Werden Menschen mit Demenz als aktive Bürger und Akteure mit einer Vielfalt an beibehaltenen Kompetenzen einbezogen, müssen sie zwar nach wie vor demenzielle Beeinträchtigungen bewältigen, sie haben jedoch nicht noch gegen stereotype Vorbehalte und Barrieren in den Köpfen anderer anzukämpfen – «als wäre ersteres nicht schon schwierig genug», sagt Linda Örulv und hält fest:

  • Interventionen von aussen können Passivität und Abhängigkeit begünstigen, anstatt zu eigenem Handeln ermutigen.
  • Strukturiertes Vorgehen in professionell geführten Gruppen kann den Eigenausdruck von Menschen mit Demenz eventuell behindern und deren gegenseitige Unterstützung lähmen.

«Es braucht unterschiedliche Herangehensweisen und Angebote, um Menschen mit Demenz zu erreichen», erklärt Zoë Campbell. Im Falle von Peter Lyttle jedenfalls hat «Side by Side» dazu beigetragen, dass er heute mit der Krankheit gut leben kann. Er hat seinen Weg aus Passivität und Isolation gefunden.

Peter Lyttle erzählt seine Geschichte (engl.)