Was ist, wenn ihr nicht mehr da seid? - demenzjournal.com

Eltern

Was ist, wenn ihr nicht mehr da seid?

Die Eltern des Autors auf einer Reise in die Toskana, 1971. Bild Privatarchiv

Der Tod der Eltern gehört zum Schlimmsten, was man sich vorstellen kann. Unser Autor fürchtet sich schon lange davor. Höchste Zeit also, mit Mutter und Vater darüber zu sprechen.

Von Robin Schwarzenbach

Kennen Sie das? Man ist bei den Eltern zum Abendessen eingeladen, und alles fühlt sich plötzlich leichter an. Der Alltag, die Mühen des Lebens? Verflogen, sobald man durch die Tür tritt. Grummelige Blicke, kritische Bemerkungen? Ein Leichtes, sie zu ertragen. Man kann die Zeit anhalten, sich fallenlassen, noch einmal Kind sein.

Erst recht in jenem Haus, in dem man aufgewachsen ist: «Bubele, du solltest wieder einmal zum Coiffeur/dich etwas mehr bewegen/endlich eine anständige Jacke kaufen gehen.» Und dann dieses Seufzen der Mutter. Nie ist es einfacher, Sohn zu sein, als in diesen ersten Minuten in der Küche.

Oder im Wohnzimmer im ersten Stock, wo der Fernseher fast immer läuft – «GC hat wieder einmal gewonnen. Was gibt es Neues in der Zeitung?» – und mein Vater und ich gar nicht viel reden müssen zusammen auf dem Canapé.

In diesen Augenblicken bin ich richtig glücklich. Ich spüre eine starke Geborgenheit, vor allem bei meinem Vater. Jetzt kann mir nichts passieren.

Es ist wie in der Liebe

Mein Vater ist 81 Jahre alt, meine Mutter 79. Ich bin das jüngste von vier Kindern. Und ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass meine Eltern eines Tages sterben werden.

Die Angst vor ihrem Tod begleitet mich schon viele Jahre. Das Coronavirus hat damit nichts zu tun, im Gegenteil. Meinen Eltern geht es gut. Wenn wir uns treffen, tragen wir Masken. Mein Vater hat im März die zweite Impfung bekommen. Bei meiner Mutter ist es Ende April so weit.

Ich war mir allerdings schon im ersten Lockdown sicher, dass ihnen die Pandemie nichts anhaben kann. Mein Bruder und ich gingen einkaufen für sie, sie nahmen die Isolation in diesem sonnigen, warmen Frühling im vergangenen Jahr ziemlich locker.

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Und überhaupt: Sie waren schon immer da. Das Unvermeidliche, das Unvorstellbare – ihr Sterben, ihr Tod … man mag gar nicht dran denken. Sträubt sich dagegen, rennt davon.

Stattdessen pflegt man ein idealisiertes Bild von ihnen, das alles ausblendet, mit dem man lieber nichts zu tun haben will: die schlechte Laune beispielsweise, ihre ständigen Zankereien untereinander. Die Enge, die von ihnen ausgeht, das Erdrückende. «Red ein bisschen deutlicher!», sagen meine Eltern immer wieder zu mir. Dabei nuschle ich wohl vor allem deswegen so, weil ich annehme, dass sie mich ohnehin nicht verstehen.

Mein Job, die Digitalisierung der Medienwelt, Schaffenskrisen im Home-Office – schwierige Gesprächsthemen. Da ist es viel besser, wenn ich meiner Mutter am Computer etwas erklären kann oder meinem Vater am iPad.

Der Tod der Eltern ist eine Bedrohung. Er wird all das irgendwann zerstören. Mutter, Vater, Elternhaus – ein sicherer Hafen, in den man ein Leben lang zurückkehren kann: Für die Berner Generationenforscherin Pasqualina Perrig-Chiello gehört dies zu jenen Illusionen des Lebens, die man im Alter zwischen 40 und 50 Jahren aufgeben muss. «Früher oder später müssen Sie loslassen», sagt die Psychologin im Gespräch.

Ich bin 41. Und ich denke nicht daran, auf einmal nicht mehr Kind meiner Eltern zu sein.

Perrig-Chiello kann diese Trotzreaktion nachvollziehen. Sie hält sie gar für typisch für einen Letztgeborenen, der vielleicht noch mehr an seinen Eltern hängt als die älteren Geschwister: «Starke Bindungen können schmerzen. Es ist wie in der Liebe: Wir sind am verletzlichsten, wenn sie zu Ende geht.»

Bin ich verletzlich – jetzt schon …? Mein Vater sagt: «Ich fühle mich überhaupt nicht alt. Bei anderen denke ich oft: ‹Läck, ist das ein alter Mann!› Dabei sind die häufig zehn Jahre jünger als ich.» Er steht mitten im Leben, geht jeden Tag ins Büro der familieneigenen Firma und weiterhin auf die Jagd und zum Fischen auf den Hüttnersee.

Meine Mutter musste sich in den vergangenen Jahren mehreren Augenoperationen unterziehen. Längere Autofahrten sind seltener geworden, spontane Ausflüge ebenso. Aber deswegen an den Tod denken? «Das mache ich eigentlich nicht so», sagt sie. Lieber Yoga-Übungen am Morgen, jeden Tag spazieren gehen und im Garten immer noch so viel wie möglich selbst machen: Jäten, Laub rechen, Dahlien setzen. Trotz Muskelkater.

Mein Vater sagt zwar, dass er schon etwas Angst habe vor dem Tod. «Man weiss halt nicht, wie das ist, wenn man stirbt.» Aber vor allem sei es schade, irgendwann gehen zu müssen. Was ist in fünf Jahren …? Zum Glück sind die Herbstferien bereits gebucht: am Meer, wie immer!

«Herrgott noch mal!»

Meine Eltern sind da viel gelassener als ich. Das zeigen die beiden Gespräche recht deutlich, die ich mit ihnen für diesen Text geführt habe. Seither kann ich mir zumindest vorstellen, was Entwicklungspsychologen unter «filialer Krise» verstehen: das Bewusstsein, dass die eigenen Eltern irgendwann sterben werden.

Und dass man damit überfordert ist. Mit der Einsamkeit und der Kälte, die einen packen und nicht mehr loslassen wird. Der Moment der Todesnachricht – ein Sturz in einen endlos tiefen Abgrund.

Ein schwarzes Loch, gegen das man ankämpfen kann mit Haltung, guter Erziehung, Disziplin. Das einen aber trotzdem verschlucken wird.

Im März 2004 war meine Mutter auf dem Heimweg vom Engadin, als sie bei einer kleinen Kirche plötzlich stoppte. Es war der Tag, an dem ihre Mutter starb. Sie schien es zu spüren. Ich musste es ihr sagen zu Hause, aber ich konnte sie nicht trösten. Ich rannte davon, obwohl man dem Tod in solchen Augenblicken nicht entkommen kann.

Mit dem Vater im «Häxetäli» in Horgen am Zürichsee, 1986.Bild Privatarchiv

Mein Vater verkörpert alles, was man sich wünschen kann als Kind, zumindest auf den ersten Blick. Als ich klein war, machten wir einen Ausflug an einen Bergsee in Österreich. Es war ein schöner Sommertag.

Am steilen Ufer lag eine Planke aus Holz, die musste entdeckt werden, ob glitschig oder nicht! Sekunden später lag ich auf dem Hosenboden und rutschte hilflos dem grünen Wasser entgegen.Papa reagierte und packte mich gerade noch rechtzeitig – nie zuvor und nie mehr danach war ich derart froh, die starke, schützende Hand meines Vaters zu spüren.

Unter ihm hatten wir Kinder nichts zu befürchten. Ausser Wutausbrüchen, die schnell und oft passierten, damals, in den achtziger und neunziger Jahren, als die Firma und damit die finanzielle Zukunft der Familie viele Sorgen und Stress bedeuteten.

«Herrgott noch mal! Herrgott Sternä!» Mein Vater ist impulsiv, aber nicht nachtragend. Das Donnerwetter geht schnell vorbei, man sollte sich davon nicht zu sehr beeindrucken lassen. Meine Geschwister haben das viel schneller begriffen als ich.

Dominant und ungeduldig

Allein, er ist halt sehr dominant. «Nicht so!», poltert er jeweils beim Feuermachen an der Grillstelle/beim Fleischbraten/beim Fischen … man könnte hundert Beispiele anführen, bei kleineren und grösseren Dingen des Lebens. Alles muss man immer genau so machen, wie er es will.

Sein Vater, Major der Kavallerie, war vermutlich noch schlimmer – erst recht in den ersten Jahren, als Papa unter ihm in der Firma anfing. «Ich hätte mir manchmal etwas mehr Unterstützung gewünscht im Geschäft», sagt er, als ich ihn auf seinen Vater anspreche, nach einigem Zögern.

Hätte ich mir etwas mehr Unterstützung gewünscht von ihm? Ein bisschen mehr Vertrauen?

Vielleicht. Aber das wäre zu einfach. Mein Vater ist ungeduldig, das ist einfach so. Und er kann unglaublich gut mit Zahlen umgehen. Wer da nicht mitkommt, hat Pech gehabt. Textverliebte Träumer stehen auf verlorenem Posten. Lieber keine dummen Fragen stellen.

Hoffen, dass wir zurechtkommen werden mit all den Aufgaben, die er uns eines Tages hinterlassen wird. Oder bei Fragen zur Steuererklärung. Oder einfach so. Wenn ich nicht mehr neben ihm sitzen kann auf dem Canapé.

Meine Mutter sagt, ich sei schon immer sensibel gewesen. Der Jüngste, der Kinderlose, das Sorgenkind, das am längsten bei den Eltern wohnte. Bis ich 27 war. Ich studierte im grenznahen Ausland und hatte wahnsinnig Heimweh. Aber das war nichts gegen das Heimweh meiner Mutter, die mit 12 aus Alexandrien ins Internat nach Ftan geschickt wurde. Für sieben lange Jahre!

Meine Grosseltern waren Auslandschweizer, und meiner Mutter brach es in den engen Unterengadiner Bergen fast das Herz, so lange so weit weg zu sein von Eltern und Geschwistern. Im Sommer 1954 schrieb sie in einem Brief:

Wann kommst Du Mami nach Ftan? Hoffentlich am Mittwoch. Da hab ich am meisten freie Zeit. Bitte darf ich das Klavier aufgeben?

Ich habe meinen Eltern nie Briefe geschrieben, schon gar nicht über meine Gefühle. Aber ich habe mit ihnen über den Tod gesprochen und das Leben.

Es heisst, dass erwachsene Kinder mit einer starken Bindung zu ihren Eltern einen Vorteil haben. Erinnerungen an die Kindheit und eine stabile Beziehung danach sollen eine Ressource sein für später.

Pasqualina Perrig-Chiello sagt: «Solche Personen können Tod und Trauer besser bewältigen als jene, die alte Konflikte mit ihren verstorbenen Eltern mit sich herumtragen, die dann kaum mehr aus der Welt zu schaffen sind – weil es zu spät ist.» Man solle die eigenen Ängste ansprechen, auch, um ihnen den Schrecken zu nehmen. Sich lösen von der dominanten Vaterfigur.

Grosszügig sein

Mich lösen von Papa? Meine Mutter sagt, der Tod meines Grossvaters habe meinen Vater ein Stück weit befreit. Er sei sicherer geworden, reifer. Das klingt gut. Doch befreit werden möchte ich nicht. Er selbst hat damals zu mir gesagt: «Wir müssen das positiv sehen.» Ich glaube, er meinte: als Chance.

Vielleicht wird es nicht ganz so schlimm, wie ich es mir heute ausmale. Beim Gespräch mit meiner Mutter klingelt das Telefon zweimal; einmal ist es ihr kleiner Bruder und einmal meine älteste Schwester. Die Familie ist omnipräsent.

«Was ist, wenn ihr nicht mehr da seid?», frage ich Mami. Sie gibt mir ein Taschentuch und sagt: «Wenn beide Eltern nicht mehr da sind, gibt es eine Zäsur. Dann ist jedes Kind erwachsen, jedes hat sein eigenes Leben.»

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Mein Vater sagt ganz zu Beginn im Gespräch: «Ich denke sehr oft an den Tod und die Zeit danach. Euretwegen, wegen des Testaments. Ich möchte klare Verhältnisse, damit niemand zu kurz kommt.»

Probleme, Szenarien, Lösungen. Gefühle kommen später. Das ist typisch für ihn. Mein Vater denkt immer zuerst an die anderen, in dem Fall an unsere Mutter und uns Kinder. Er ist grosszügig und wünscht sich, dass wir ebenfalls grosszügig und ehrlich sind, verlieren und verzichten können im Leben.

Mich lösen von Papa? Niemals.


Dieser Beitrag von Robin Schwarzenbach erschien erstmals in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. April 2021. Vielen Dank an den Autor und die Redaktion für die Gelegenheit der Zweitverwertung.