Wenn die Ressource zum Problem wird - demenzjournal.com

Umherirren

Wenn die Ressource zum Problem wird

Mit Menschen ohne Ziele und Absichten hat unsere Gesellschaft ein Problem. Bild Daniel Kellenberger

Immer in Bewegung bleiben! Dies ist ein guter Ansatz. Bewegung ist gesund und gibt eine gute Laune. Aber längst nicht immer.

«Was will denn der schon wieder?»-«Du kannst jetzt nicht zur Arbeit, es ist mitten in der Nacht!»-«Kann denn niemand aufpassen? Wir können nicht verantworten, dass Frau S. selber aufsteht, das Sturzrisiko ist zu gross.»

So oder ähnlich tönt es immer wieder. Zu Hause und in Heimen – dort, wo Menschen sind, die sich gerne bewegen, Menschen, die rastlos sind oder einen unsicheren Stand haben. Manchmal stürzt auch jemand.

Dies beschäftigt Angehörige, Betreuende und Pflegende intensiv. Es ist schwierig, jemandem zu sagen, er solle nachts nicht zur Arbeit gehen, wenn er schon hundert Mal die Türklinke in die Hand genommen hat. Wenn er anfängt zu schreien, weil die Tür abgeschlossen ist. Schwierig ist der Umgang auch mit Menschen, die an Orte gehen, wo sie andere stören oder den Weg zurück nicht mehr finden.

Stürzen statt stehen, irren statt gehen

Bewegung ist unter solchen Umständen schnell negativ besetzt. Die Ressource wird zum Problem, wenn der Betroffene stürzt statt steht, wenn er irrt statt geht. Das RAI-System (Resident Assessment Instrument) definiert die Unterschiede zwischen umherirren, ziellosem Umhergehen und absichtsvollen Spaziergängen. Werfen wir einen genaueren Blick darauf.

Umherirren ist eine Form von Bewegung und stellt ein Problem dar. Damit wird die Bewegung bereits gewertet, was nichts Gutes bedeutet. Wer umherirrt, hat kein Ziel. Wer in unserer Zeit kein Ziel hat, ist nicht auf dem richtigen Weg, denn wir haben immer ein Ziel, wenn wir uns bewegen. Wir möchten es so gerne genau wissen: Was ist dein Ziel, wonach suchst du? Wir Gesunden entscheiden, ob die Bewegung positiv oder das Umherirren negativ besetzt ist.

Demenzgerechte Architektur

Barrierefrei wohnen

«Es sollte uncool sein, mit Barrieren zu bauen»

Die barrierefreie Bauweise sollte zur Normalität werden. Sie verringert Gefahren, macht das Leben komfortabler – und steigert den Wert der Immobilie. weiterlesen

Wo soll denn jemand hingehen, wenn der «geschützte Demenzbereich» (welch gemeiner Begriff!) nur eine Wohnung oder eine eng begrenzte Abteilung umfasst?

Welches Ziel sollen die Bewohner haben, wenn sie nur hin- und hergehen können und immer wieder vor geschlossenen Türen stehen?

In diesem Umfeld wird aus dem Gehen zwingend ein Umherirren. Wenn Bewohner wirklich gehen wollen, brauchen sie dazu viel Raum.

Dass Menschen sediert werden müssen, weil sie einen starken Drang nach Bewegung haben, wertet ihren Wunsch nach Bewegung. Der Wunsch ist zu stark, zu heftig, die Betroffenen sind zu laut, zu unangepasst.

«Hat kein Ziel» als Kriterium

Vielleicht gelingt es Qualitätsentwicklern einmal, die «normale Demenzerkrankung» zu definieren. Dann könnten wir nur noch die Abweichungen betrachten und hätten «objektive Massstäbe» für ein Phänomen, das nicht objektivierbar ist. «Hat kein Ziel» oder «irrt umher» wäre dann ein Kriterium. Die «Schuld» würde beim anderen liegen.

Wer ist schuld, wenn sich ein Mensch mit Demenz verirrt? Wir die Frage der Verantwortung zu einer Belastung für die Betreuenden?Bild Daniel Kellenberger

Weil ich kein Ziel erkenne, hat er auch keines. Weil ich nicht erkenne, dass der andere etwas tut, tut er auch nichts. Weil ich nicht erkenne, dass die Menschen unterschiedliche Ziele haben, haben sie keine Ziele, also sind sie alle dement.

Ich gebe zu, dies ist eine verwirrende Vorstellung. Es liegt in meiner Kompetenz zu entscheiden, ob jemand weiss, was er tut. Das käme uns sonst nie in den Sinn – aber bei Demenz wissen wir, was «Ziellosigkeit» ist, und dass ich das Ziel des Umherirrenden nicht erkenne.

Diese Haltung führt zwangsläufig dazu, dass Umherirren vermieden werden muss. Wir benennen Verantwortliche, die schuld daran sind, wenn jemand umherirrt, entläuft, stürzt usw.

Die Verrechtlichung des Alltags führt zu einer Verantwortlichkeit, die in der Realität gar niemand übernehmen kann, da die mit Bewegung einhergehenden Risiken letztlich nicht zu bändigen sind.

216 Verkehrstote im letzten Jahr auf Schweizer Strassen wären Rechtfertigung genug, den ganzen Verkehr zu stoppen.

Zum Glück nehmen wir Risiken in Kauf, und das ist gut so. Menschen mit Demenz haben es verdient, dass wir mit ihnen auch Risiken eingehen, dass wir nicht sedieren müssen, nur weil wir es nicht aushalten, dass etwas passieren kann.

Oft werden solche Sedierungen nicht eingesetzt, weil sie dem Menschen guttun sollen, sondern weil Institutionen nicht in der Lage sind, einen Weg zu gehen und einen Lebensraum zu bieten, der aktiven Bewohnern gerecht wird. Man kann durchaus von einer institutionellen Sedierung sprechen.

Wer ist schuld?

In den letzten Jahren wurde die Thematik vielseitig diskutiert. Jetzt bewegt sich tatsächlich etwas – in welche Richtung, ist jedoch unklar. Meine Befürchtung ist, dass weiterhin der Aspekt des Rechts und der Verantwortlichkeit – sprich: «Wer ist schuld?» – zu sehr Oberhand gewinnt. Damit haben jene eine zusätzliche Belastung, die sich zu Hause und in Institutionen mit diesen Menschen auf den Weg begeben.

Diese zusätzliche Belastung fördert Resignation und behindert Kreativität. Denn wenn das Recht zum Zuge kommt, sind individuelle und gute Lösungen ausser Sicht. Was lernen wir aus dem Umherirren, aus der sogenannten Ziellosigkeit, aus dem Gehen als Ressource?

Man kann im Gehen prima gegen den Strom schwimmen! Dies gelingt den Menschen mit Demenz meist vorzüglich. Ich bedanke mich bei ihnen für diese Inspiration.

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

Jetzt spenden