Während des ganzen Lebens erinnern und vergessen wir. Manchmal ist das Erinnern ein Segen und das Vergessen ein Fluch. Manchmal ist das Vergessen ein Segen und das Erinnern ein Fluch. Abhängig ist dies immer von Bewertungen durch uns selbst.
Vor ein paar Jahren stellten zahlreiche Menschen bei Google den Antrag, dass Links gelöscht werden, die sie betreffen. Diese Menschen beriefen sich dabei auf das Recht auf Vergessen.
Das Individuum hat kein Interesse daran, dass Ereignisse – vor allem negativ bewertete – der Öffentlichkeit für unbegrenzte Zeit zur Verfügung stehen. Solche Ereignisse sollen vor allem aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden können.
»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«
Ob die Erinnerung tatsächlich ein Paradies sein kann, ist von Bewertungen abhängig, die wir dem tatsächlich Erlebten geben. Die zeitliche Distanz zum Erlebten beeinflusst unsere Erinnerung maßgeblich.
Wenn etwas weit in der Vergangenheit zurückliegt, ist plötzlich alles gut oder alles schlecht. Die Undifferenziertheit nimmt zu, einzelne Erlebnisse werden zu hoch gewichtet. Die erlebte Kameradschaft kann zum Beispiel zu einer Verklärung des Militärs führen.
Ich beziehe Erinnerungen sehr oft in die Pflege mit ein. Dadurch werden die Bewohner abgelenkt von teils unangenehmen Pflegehandlungen. Dadurch entsteht eine Vertrauensbasis, denn in diesem Moment bin ich eine Person, die etwas Kostbares teilt. Erinnerungen sind für mich ein absoluter Segen. Man erlebt Schönes, Gutes, Lustiges. Und dies immer wieder aufs Neue.
– Salome Meyer-Locher (28), dipl. Pflegefachfrau
Erinnerungen zu beschönigen kann auch eine unbewusste Strategie sein, um mit schmerzvollen Erfahrungen der Kindheit einen Umgang zu finden, der den Schmerz aushalten lässt. Die Meinung, eine Ohrfeige habe noch niemandem geschadet, könnte Ausdruck dieser Haltung sein.
Umgekehrt werden Erlebnisse pauschal negativ bewertet, obwohl sie nicht nur negativ erlebt wurden. Oft anzutreffen ist dieses Phänomen, wenn es um das Verhältnis des Einzelnen zu Kirche und Religion geht. Da wird aus der aktuellen Haltung heraus das früher positiv Erlebte nur noch negativ bewertet.