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Alzheimer und wir

Die Kindheit spielt eine wichtige Rolle

Die Diagnose ist so etwas wie ein Zeichen. Wenn man dann nicht ins Gespräch kommt und nachfragt, wird man die Dinge später nie mehr erfahren. Bild pixabay

Die Demenz-Expertin Eva Helms hat einen Ratgeber geschrieben für Menschen mit Demenz, der ihnen in der Frühphase der Erkrankung helfen soll.

Es geht viel zu oft um die Angehörigen und viel zu wenig um die Betroffenen – das sagt Eva Helms, Demenz-Expertin aus Dresden nach ihrer langjährigen Erfahrung in der Beratung und Begleitung von Menschen mit Demenz.

Sie wollte das ändern und hat einen Ratgeber geschrieben für Menschen mit Demenz, der ihnen in der Frühphase der Erkrankung helfen soll. Im Interview erklärt sie auch, welche Rolle die Kindheit für diese Menschen spielt – und wie man als Angehöriger schon mit einzelnen Wörtern für Glücksmomente sorgen kann.

Liebe Frau Helms, es gibt ja schon einige Ratgeber über Demenz. Was zeichnet ihr Buch «Es ist nicht alles Demenz» aus?

Eva Helms: In meiner Beratungsstelle empfehle ich gerne Sachbücher, aber die meisten Bücher richten sich an Angehörige. Mein Ratgeber ist ein Buch für die Betroffenen. Es ist ein Mut machender Ratgeber für Menschen am Anfang ihrer Erkrankung.

Was erhoffen Sie sich dadurch?

Mir ist es wichtig, dass die Menschen so lange es geht, selbstbestimmt entscheiden können. Dazu gehört auch, dass sie sich informieren können. Es gibt zwar eine UN-Behindertenrechtskonvention, die besagt, dass kein Mensch benachteiligt werden darf. Menschen mit Demenz sind es aber aufgrund ihrer Einschränkungen doch.

Wir als Gesellschaft haben den Auftrag, Informationen für die Betroffenen besser zugänglich zu machen. Ich möchte mit meinem Buch einen Beitrag leisten.

Denn in der Frühphase einer Demenz sind Menschen durchaus fähig sich zu informieren und zu lesen – und es ist sehr wertvoll und wichtig für sie, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und an der Gesellschaft teilhaben zu können.

Wie sind Sie auf das Thema Demenz gestossen?

Eher durch Zufall. Nach meiner Ausbildung zur Krankenschwester habe ich lange in einem anderen Beruf gearbeitet, wollte dann aber in den sozialen Bereich zurück und machte eine Weiterbildung zur Fachberaterin für Geriatrie und Gerontopsychiatrie.

Mein Grossvater hatte Alzheimer, aber das war mir damals noch nicht bewusst. Es wurde nicht als Krankheit behandelt, sondern als Verkalkung und Altersstarrsinn bezeichnet, wie man es in den 70er-Jahren eben nannte. Rückblickend haben wir damals alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte.

Eva Helms: «Jeder Mensch mit Demenz, den ich begleitet habe, war eine Bereicherung für mich.»Bild PD

Wie meinen Sie das?

Ich war bei einem Mann, der stark an vaskulärer Demenz erkrankt war – aber sein Charme war nicht verloren gegangen. Das war eine richtig schöne Erfahrung, die mir gezeigt hat, dass nicht alles schlimm ist mit Demenz.

Jeder Mensch mit Demenz, den ich begleitet habe, war eine Bereicherung für mich. Diese Erfahrungen haben mich geprägt und ich wollte mehr tun.

Speziell für Menschen im Frühstadium einer Demenz?
Ja, denn da gab es zu wenig Angebote. Wir bieten Gesprächskreise an für Menschen mit beginnender Demenz. Denn das ist eine Phase, in der reflektierte Gespräche noch möglich und auch wichtig sind. Ich merke, dass es den Erkrankten gut tut, wenn sie mit anderen sprechen, denen es so geht wie ihnen.

Was ist das besondere an diesen Gruppen?
Die Fassade der Menschen mit beginnender Demenz ist ja noch heil und im Alltag wirken sie kompetent. Mein Anspruch ist es, ihnen Impulse mitzugeben, um diese Alltagskompetenz und das Selbstbewusstsein zu stärken. Ich erlebe, wie behutsam die Menschen in der Gruppe miteinander umgehen und sich gegenseitig stützen.

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Wie wichtig ist es, über die Krankheit zu sprechen?

Es ist wichtig, aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es sehr schwer fällt. Als meine Mutter an Alzheimer erkrankt war, hat sie mir oft von den Veränderungen erzählt. Das war mit viel Traurigkeit verbunden. Wir haben Wege gesucht, damit der Alltag normal weiter funktioniert. Das war das Wichtigste.

Rückblickend wünsche ich mir, dass ich noch viel mehr mit ihr gesprochen und mir manches vielleicht auch aufgeschrieben hätte. Die Diagnose ist so etwas wie ein Zeichen. Wenn man dann nicht ins Gespräch kommt und fragt, dann wird man die Dinge später nie mehr erfahren. 

Eva Helms

Eva Helms ist Fachberaterin für Geriatrie und Gerontopsychiatrie. Sie berät Menschen mit Demenz, hält Vorträge und entwickelt Projekte für selbstbestimmtes Leben im Alter – mit und ohne Demenz. Sie ist Autorin des Buches Es ist nicht alles Demenz. Das Mutmach-Buch nach der Diagnose, mit einem Vorwort von Helga Rohra.

Ist es auch für die Menschen mit Demenz wichtig?

Ja, man vergibt sonst auch die Chance, mit zu entscheiden, wie man später einmal gepflegt wird. Man lässt die Angehörigen allein mit diesen Entscheidungen.

Worüber sollte ich als Angehöriger sprechen?

Die Kindheitsbiografie ist bei vielen Menschen das, was am längsten zugänglich ist. Die Kindheit spielt in der Demenz eine wichtige Rolle. Es ist gut, wenn man sich als Sohn oder Tochter über das Leben des Menschen informiert.

Lassen Sie sich erzählen, wie das Leben war, in welchem Umfeld sie lebten, was sie gegessen haben, was sie gerne gemacht haben. Und später können sie dann davon erzählen und so Freude schenken.

Und wenn da von allein nicht viel kommt?

Dann können Sie sich über die Zeitgeschichte informieren. Man kann auch gemeinsam alte Bilder anschauen. Oft kommen dann die alten Geschichten wie von selbst. Man unterschätzt, wie wichtig solche Kleinigkeiten sind.

Ich erinnere mich an eine Dame mit fortgeschrittener Demenz. Die hatte sich sehr zurückgezogen, aber sie sagte einen Satz: Wir waren 14 Kinder, ich war die Jüngste und war immer der Kurier. Wenn ich diesen Satz zu ihr sagte, hat sie das wach gemacht. Ich habe das oft gezielt vor dem Essen noch einmal zu ihr gesagt. Das hat tatsächlich bewirkt, dass sie allein gegessen hat.

Ein einzelner Satz, der Wunder wirkt.

Ja, manchmal genügt das. Gerade in Pflegeheimen weiss man manchmal leider nicht so viel über die Kindheit der Bewohner. Aber als Angehörige hat man viele Informationen, weil man sich schon so lange kennt. Man kann ganz viele kleine Dinge anbieten und dadurch zeigen, dass man den anderen annimmt.

Manchmal sind es auch einzelne Wörter, die ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Ich war mal bei einer Frau, die aus dem Sudetenland stammte. An ihr habe ich gemerkt, welche wichtige Rolle die Heimat spielt. Als ich ihr das Wort Karbonadl – so nannte sie früher Buletten – gesagt habe, ist sie aufgeblüht.

Schwierig, wenn man nicht mehr miteinander sprechen kann …

Die Kommunikation läuft dann anders. Vieles läuft über die Gefühle. Mimik und Gestik spielen dann eine viel grössere Rolle als Worte. Durch die Begleitung, Betreuung oder Pflege eines Menschen mit Demenz lernt man auch viel über sich selbst. Es gibt viele Herausforderungen, aber man wächst daran.