«Perfektionismus ist ein Feind» - demenzjournal.com

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«Perfektionismus ist ein Feind»

«Viele von Demenz betroffene Menschen wären in Heimen besser aufgehoben als allein zu Hause.» Bild Mara Truog

Die Krankheit beginnt schleichend: mit Vergesslichkeit oder Orientierungslosigkeit. im Laufe der Zeit nimmt sie einem die Selbstbestimmung. Irene Leu hat ein Sachbuch veröffentlicht, in dem sie aufzeigt, wie man auch mit einer Demenz gut leben kann.

Von Elena Stojkova, Schaffhauser Nachrichten

In der heutigen, überinformierten und überindividualisierten Zeit sei Demenz ein Schreckgespenst, sagt Irene Leu, Autorin des Buches Mit Demenz gut leben – aber wie?. Es kursiere viel Halbwissen um das Thema. «Demenz soll immer weggemacht werden.» 

Die Krankheit dürfe nicht sein, und wenn, dann normiert. Es sei eben nicht so, dass auf Verhalten A Reaktion B oder auf Frage A immer Antwort B folge.

Die Autorin Irene Leu arbeitet als Coach in Pflegeinstitutionen.Bild PD

Irene Leu stammt aus Schaffhausen, lebt aber seit vier Jahrzehnten in Basel. Seit einem Jahr ist sie pensioniert, arbeitet aber noch in kleinerem Pensum, unter anderem als Coach in Pflegeinstitutionen, wo Menschen mit Demenz betreut werden.

Nach der Ausbildung zur Psychiatrie-Krankenschwester kam sie zur Basler Memory Clinic und zur Alzheimervereinigung beider Basel, als beide Institutionen neu gegründet und aufgebaut wurden.

«Das Thema Demenz hat mich vom ersten Tag an fasziniert», sagt sie. Während der vielen Jahre im Demenzbereich sei sie immer wieder gebeten worden, ein Buch zu schreiben, insbesondere auch von Angehörigen. 

«Sie schätzten meine pragmatische Begleitung und mein Vorgehen, sie zu unterstützen und mit ihnen Wege zu finden, anders mit ihrer Situation umzugehen.»

Weil Menschen lieber Geschichten hörten, als Theorie zu lesen, habe sie sich für das Erzählen von Einzelschicksalen entschieden, Aus Einzelschicksalen könne auf andere geschlossen werden, auch wenn jede Person mit Demenz und alle Angehörigen Individuen sind.

«Die Geschichten gleichen sich, es geht um immer dieselben Themen, es geht um physische und vor allem emotionale Entlastung.»

So erzählt sie beispielsweise von Frau Lutz, die zunehmende  Gedächtnisstörungen hat und bis zu fünf Gänge ins Dorf braucht, bis sie den Einkauf beisammen hat. Oder von Herr Riniker, der Einzahlungsscheine nicht mehr korrekt ausfüllte und später plötzlich gar nicht mehr wusste, wofür eine Bankkarte nützlich ist.

«Vergesslichkeit kann ein Symptom sein, das ist aber nicht immer so», sagt Leu. «Es kann auch anders beginnen, häufig mit einer Persönlichkeitsveränderung oder mit Orientierungsstörungen.» In ihrem Buch beschreibt sie, dass bei der Betreuung nicht die Demenz, sondern die erkrankte Person im Mittelpunkt stehen soll.

Das heisst beispielsweise, dass in einem Heim nicht alle bis zu einer bestimmten Zeit am Morgen geduscht und an den Frühstückstisch gesetzt werden, sondern auf die individuellen Bedürfnisse der Bewohnenden eingegangen wird.

Diese Art von Betreuung bringe beispielsweise auch mit sich, dass man anerkennt, dass jegliche Äusserung einer Person mit Demenz eine Bedeutung hat – auch dann, wenn man sie nicht versteht. 

In vielen Heimen herrsche noch ein funktionales Pflegeverständnis vor, sagt Leu. Dort würden Tagesabläufe, Hygiene und Sicherheit statt das Wohlbefinden der Bewohnenden dominieren. Die personzentrierte Pflege, in der der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Vordergrund steht, sei noch wenig verbreitet.

Es beeindrucke sie immer wieder, wie für Menschen mit Demenz dieselben Themen wichtig und irritierend seien wie für Menschen, die nicht betroffen sind: Hilflosigkeit, Ohnmacht, Abhängigkeit, Hilfsbedürftigkeit, Nichtgelingen. Wenn sich jeder mit diesen Themen auseinandersetzten würde, wäre die Krankheit vielleicht auch nicht mehr so angstbesetzt, sagt sie.

«Menschen mit Demenz sind so bedürftig wie wir, angewiesen auf Resonanz und Kommunikation, auf Aufrichtigkeit und darauf, sich im Leben einbringen zu können und selbstwirksam zu sein.» Leu ist überzeugt:

«Es gibt ein Leben mit Demenz, auch ein gutes Leben mit Demenz, wenn die Umgebung sich gut anpassen kann.»

Denn Demenz betrifft alle, die mit der erkrankten Person zu tun haben: Familie, Freunde, die ganze Wohnsiedlung.

Es sei möglich, sich mit Betroffenen im frühen Stadium über ihre Demenz zu unterhalten – mit einer angepassten Sprache – und ihnen damit die Verarbeitung möglich zu machen. «Vielleicht geht es wieder vergessen, dann wird das Gespräch wiederholt, immer wieder.»

Irene Leu: «Mit Demenz gut leben – aber wie?», Zytglogge Verlag, 381 Seiten.Bild Zytglogge

Auch Menschen mit Demenz hätten das Recht, sich auseinanderzusetzen, und es sei nicht für alle unmöglich. Der Slogan der Demenz-Selbsthilfe lautet entsprechend: «Mit uns reden, statt über uns.»

Leu ist auch der Meinung, dass man ihnen nicht alles aus den Fingern nehmen muss: «Sie können vieles selbständig, einfach langsamer und vielleicht nicht mehr perfekt. Perfektionismus ist der grösste Feind.»

Häufig vereinsamen Menschen mit Demenz: Ihre Freunde, Bekannte und Verwandte ziehen sich zurück, meistens aus Hilflosigkeit. «Ich rate Angehörigen oder auch den Betroffenen selbst, die Diagnose bekannt zu machen, das kann viel Verständnis schaffen.»

Sie empfielt auch, Hilfsangebote anzunehmen. «Betroffene und ihre Angehörigen sollten nicht allein gelassen werden, schon eine Stunde Kontakt kann vieles erleichtern.»

Wenn jemand das Gefühl habe, möglicherweise betroffen zu sein, solle er oder sie unbedingt eine Abklärung in einer Memoryklinik anpeilen.

«Es gibt Betroffene und Angehörige, die gut zurechtkommen mit der Diagnose und auch noch später», sagt Leu. Die Mehrheit aber laufe gegen Wände und leide mehr, als es sein müsste. Beratung und Gespräche mit Fachpersonen seien hier richtig und wichtig.

Dossier: Meine Lieben! Wer entscheidet im Namen von Menschen mit Demenz?

Darf man einem Menschen mit Demenz keine Medikamente geben, wenn er sich vor seiner Erkrankung gegen die Schulmedizin geäussert hat? Wer ist in solchen Fällen «zuständig» und entscheidet im Interesse des Betroffenen? Das Erwachsenenschutzgesetz gibt kaum Antworten auf solche Fragen.

Den häufigste Fehler sieht Leu darin, die Demenz wegmachen zu wollen. «Sei es mit Gedächtnistraining, mit Medikamenten, mit mediterraner Kost und was im Moment sonst noch alles dringend empfohlen wird.»

Dagegen spreche nichts, wenn es für die Betroffenen verträglich sei und ihnen gut tue. «Ansonsten: Finger weg!» Auch Demenz sei mittlerweile ein Markt geworden. «Nicht immer ist auf den ersten Blick ersichtlich, was sinnvoll ist und was Scharlatanerie.»

Ob Demenzkranke daheim bleiben oder ins Heim gehen, sei individuell zu entscheiden. «Das muss sich in der Auseinandersetzung herauskristallisieren, und zwar nicht nur mit dem Kranken, sondern mit dem  ganzen Umfeld», sagt Irene Leu. Der gute und rechtzeitige Eintritt hänge nicht vom Stadium der Demenz ab, sondern von den Möglichkeiten der Umgebung.

«Viele Demenzbetroffene wären in Heimen besser aufgehoben als allein zu Hause – wenn die Heime anders arbeiteten.» Oft stünden nicht die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen im Vordergrund.

Die Slogans der Kantone «Lieber daheim statt im Heim» oder «Ambulant vor stationär» seien dem Umstand geschuldet, dass ambulante Behandlungen für die Kantone günstiger seien. «Ich wünschte mir, dass das auch so kommuniziert wird.»


Irene Leu, «Mit Demenz gut leben – aber wie?», Zytglogge Verlag Bern, 381 Seiten.

Herzlichen Dank an die Autorin Elena Stojkova für die Gelegenheit der Zweitverwertung dieses Beitrags, der im Februar 2020 in den Schaffhauser Nachrichten erschienen ist.