Herr G. schiebt die rote Neun zaghaft über den Tisch. Schliesslich steckt er sie unter die rote 13 und bringt dabei die Reihe der Karten durcheinander. «Der kommt da nicht mit», sagt Herr N. und schüttelt den Kopf. «Keine Ahnung hat der!» Herr N. wollte diesen «Seich» von Anfang an nicht mitmachen. Er habe keine Lust auf dieses Spiel, sagte er, als sich die Pflegefachfrau Irene Bartenbach anschickte, die Karten zu verteilen.

Viel lieber spricht der 75-jährige über seinen Sohn, der früher als Fussballprofi in der NLA spielte. Immerhin hilft Herr N. dann und wann dem neben ihm sitzenden Herrn K. Doch der findet, er habe «Schiisskarte» – und grinst breit, als er das sagt.

Wichtige Schaltstelle im Versorgungsnetz

Eine beginnende Demenzerkrankung kann sich mit folgenden Symptomen ankündigen: auffällige Vergesslichkeit, Konzentrationsschwäche, Orientierungs- und Verhaltensstörungen oder sozialer Rückzug, die zu einer Einschränkung im Alltag führen. Für Menschen mit diesen Symptomen bietet die Memory-Kliniken ein bewährtes Diagnose-Programm. An zwei Tagen führen die Spezialisten folgende Abklärungen durch: – Psychiatrische, neurologische und neuropsychologische Untersuchungen – Bildgebung des Kopfes (MRI oder CT) – Laboruntersuchungen – Beobachtung und Begleitung durch diplomierte Pflegefachpersonen Zwei Wochen nach diesen Abklärungen lädt die Memory-Klinik den Betroffenen und seine Angehörigen zum Diagnosegespräch ein. In diesem Gespräch vermittelt der Gerontopsychiater die Resultate der Untersuchungen. Er zeigt Behandlungsmöglichkeiten, Hilfsangebote und Informationsquellen auf und beantwortet Fragen.

Solche Szenen gehören in der Churer Tagesklinik zum Alltag. In der Abteilung der Klinik Waldhaus, die zu den Psychiatrischen Diensten Graubünden gehört, spielen sich aber auch tragischere Szenen ab. Die Tagesstätte für Menschen mit Demenz ist nämlich auch eine Memory-Klinik. Hier werden Menschen mit Verdacht auf eine Demenz untersucht.

Die Kombination macht Sinn, weil die Abklärungen zwei Tage dauern und die Betroffenen hier zwischen den verschiedenen Untersuchungen von Fachleuten umgeben sind und das passende Umfeld vorfinden. Bartenbach und ihre Kollegen beobachten während dieser Abklärungen die Betroffenen und füllen Fragebögen über ihr Verhalten aus.

MRI und Fragebögen

In der Churer Memory-Klinik erhalten jährlich rund 50 Menschen die Diagnose «Demenz». Während die sechs Gäste der Tagesklinik mit Unterstützung der Betreuer die Kartenreihen vervollständigen, studiert Christian Koch in seinem Büro Test- und Untersuchungsergebnisse. Dazu gehören unter anderem ausführliche Konzentrations- und Gedächtnistests (auch neuropsychologische Testung genannt), ein MRI des Kopfes, diverse Laborwerte, eine Untersuchung beim Neurologen und ausgefüllte Fragebögen über das Verhalten des Betroffenen.

Der Co-Chefarzt der Gerontopsychiatrischen Abteilung hat gerade einen Fall auf seinem Schreibtisch, der sinnbildlich ist für die Entwicklung einer Demenzerkrankung. Es handelt sich um eine 75-jährige Frau, die anfangs Juli zwei Tage lang untersucht worden ist. Bartenbach erinnert sich an eine gut aussehende, fröhliche und sympathische Frau.

«Auf den ersten Blick hat man ihr nichts angemerkt», sagt die Pflegefachfrau. «Aber im Laufe des Tages stellte sie immer wieder die gleichen Fragen. Sie beschuldigte ihren Mann, er wolle sie loswerden und bei uns lassen. Sie weinte, als sie nach Hause gingen. Auch der Mann war sehr aufgewühlt – er sagte ihr, er wolle jetzt nicht mehr darüber reden.»

Getrübte Ferienfreude

Spätestens während des Abschlussgesprächs, in dem die Frau höchstwahrscheinlich die Diagnose «Demenz vom Typ Alzheimer» bekommen wird, wird der 76-jährige und gehbehinderte Ehemann wieder «darüber» reden müssen. Bis heute betreut und pflegt er seine Frau zu Hause. Noch vor einem Jahr unternahmen die beiden eine längere Reise. Doch in der ihr nicht vertrauten Umgebung wich sie kaum mehr von seiner Seite – auch wenn er vom Speisesaal aus die Toilette aufsuchte.

Und wenn er wieder in den Speisesaal kam, war sie verschwunden – weil sie nach ihm suchte. Aufwühlende Suchaktionen, an denen sich auch das Hotelpersonal beteiligen musste, trübten die Ferienfreude so nachhaltig, dass die beiden heute nicht mehr oft aus dem Haus gehen.

Mit den zunehmenden Defiziten seiner Frau wird der Mann irgendwann auch zu Hause nicht mehr zurechtkommen. Es ist absehbar, dass die beiden bald auf die Unterstützung von Spitex, Mahlzeitendienst und Tagesklinik angewiesen sein werden. «Das Ziel ist immer, das die Betroffenen möglichst lange und mit einer guten Lebensqualität in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können», sagt der Gerontopsychiater Koch. «Auch deshalb ist eine möglichst frühe Abklärung sehr wichtig.»

«Wir können den Verlauf der Demenz mit Medikamenten leicht verzögern. Und wir können den betreuenden Angehörigen Wissen vermitteln und aufzeigen, wo sie Hilfe bekommen.»

Christian Koch

 Die Memory-Klinik arbeite eng mit der Alzheimervereinigung und der Pro Senectute zusammen, die Beratungen, Angehörigengruppen, Ausbildungen und weitere Dienstleistungen anbieten. Dort gibt es Fachpersonen, die zum Beispiel aufzeigen können, wie ein Heimaufenthalt finanziert werden kann.  

Während sich Koch auf das Gespräch mit der Patientin und ihrem Ehemann vorbereitet, gewinnt Herr K. trotz anfänglich schlechter Karten das Elfer-raus. Doch statt seinen Sieg auszukosten, nimmt er weiter Karten auf. Herr N. schüttelt wieder den Kopf. Er tut es auch, als die Liederbücher verteilt werden. Derweil lebt der gegenüber sitzende Herr F. auf. Der Gesang des ehemaligen Musikers ist kaum zu vernehmen. Umso intensiver bewegt er seinen Mund – und steckt die gerollte Zunge zwischen die Lippen.

Die Wege sind manchmal weit

75 Abklärungen werden jährlich in der Klinik Waldhaus durchgeführt. 25 weitere sind es in den Memory-Kliniken von Illanz und St. Moritz. Bei zirka 80 Prozent der Abgeklärten diagnostizieren Koch und seine Kollegen eine Demenz. Laut Statistik erkranken aber im Kanton Graubünden jährlich zwischen 300 und 400 Menschen an einer Demenz. Warum kommt denn nur ein knapper Viertel davon in die Memory-Klinik?

Christian Koch nennt verschiedene Gründe: «In einem Bergkanton mit 150 Tälern sind die Wege weit. Hinzu kommt, das ältere Menschen oft Vorurteile gegenüber der Psychiatrie haben und ihre Angebote nicht kennen.» Ein weiterer Grund sei die ländliche Struktur Graubündens. 

«In einem kleinen Dorf, wo jeder den anderen kennt, werden Demenzbetroffene von der Gemeinschaft getragen und können sich so freier und gefahrloser bewegen als in der Stadt. Der Leidensdruck der Patienten, aber auch des Umfeldes ist daher meist weniger gross.»

Christian Koch

Um 16 Uhr werden die Gäste der Tagesklinik von ihren Angehörigen abgeholt. Herr N., der seit fünf Jahren in Chur lebt, sagt, ihm stehe nun die Heimfahrt nach Arosa bevor. Die 365 Kurven seien für ihn «überhaupt kein Problem». Herr K. spricht über eine Schreinerei, die es seit 40 Jahren nicht mehr gibt. Der Name des Inhabers ist ihm noch immer präsent. Doch seine Frau, die ihn abholen kommt, erkennt er nicht mehr. «Sich irren und doch sich weiter Glauben schenken müssen: Das ist der Mensch», heisst es heute auf dem Kalender im Wohnzimmer der Tagesklinik.