8. September 2012 – So schön
Überraschung: Wie ich heute ins Heim komme, sehe ich Paul in Richtung seines Zimmer gehen. Ich spreche ihn an, er dreht sich um und strahlt mich an. Wie nur Paul strahlen kann. Herzlich nimmt er mich in den Arm, gibt mir einen innigen Kuss, strahlt noch immer. Wie wohl mir das tut!
Er stammelt etwas von wir gehen heute Krauch… ich weiss, was er meint. Er möchte mit dem Auto einen Ausflug machen. Schon geht er schneidig auf den Lift zu, sein Fridu, öffnet uns und wir sind weg. Erst sagt er, nein, nicht ins Auto, aber dennoch geht er zielbewusst auf die Mitfahrerseite. Das kenne ich. Er sagt Nein und meint Ja.
Sag mir einfach, wohin du möchtest. Meistens kann er mich lotsen, weiss genau, wo es lang geht. Tatsächlich, er weist mich an rechts zu halten, Richtung Worb, dann hinauf Rütihubelbad, weiter auf die Menziwilegg. Immer wieder zieht es ihn in diese Richtung.
Das Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Er will dass ich anhalte. Mitten im Wald. Er steigt aus und geht an meinem Arm eingehakt festen Schrittes auf dem Waldweg. Ich staune. Sonst ist er immer voller Klagen über sein Knie. Er sucht Pilze. Tatsächlich finden wir einen recht grossen.
Er bückt sich, reisst ihn aus und zeigt ihn voller Freude. Leider ist der Rotfüssler voller Würmer. Doch das dämpft die Begeisterung fürs Pilzesuchen nicht. Er sucht weiter, geht entlang der Strasse. Findet weitere, kleinere. Das Ernten überlässt er nun mir, es hat zu viele. Er begutachtet sie, meint, die seien OK. Trotz Grauschimmel und Wurmlöchern!
Nun möchte er zum Bauernhaus am Ende des Waldes. Mühsam geht’s über Wurzeln und grössere Steine auf dem Weg. Ein paar Schafe blöken, Paul streichelt sie, wie sie uns entgegenkommen. Nein, es ist nicht das Haus, das er sucht. Enttäuscht wendet er sich wieder ab, klettert mühsam den recht steilen Weg hinauf zur Strasse.
Dennoch, er geniesst den Wald, die paar Pilze, die Erinnerungen an unsere vielen Streifzüge früher, als er noch weniger Mühe hatte mit seinem Knie. Und sein Kopf noch klar war. Als er noch selbst bestimmte, anleitete, befahl, Auto fuhr, Ideen hatte für unsere Streifzüge und Ausflüge. Als ich noch Halt hatte durch ihn, Schutz und Geborgenheit. Heute muss ich diese Rolle übernehmen.
Der Übergang zum heutigen Zustand war schmerzvoll, es gab viele Reibereien, Ausbrüche, Wortwechsel. Wenn er seinen Willen immer noch durchsetzen wollte, die Realität aber eine andere war.