Artgerechte Haltung - demenzjournal.com

Das Tagebuch (70)

Artgerechte Haltung

«Selbstvorwürfe nagen an mir, weil ich gestern einfach davon ging. Einerseits versuche ich loszulassen. Doch wenn ich erfahre, dass Paul die Nacht im Flur auf der harten Bank verbringt, plagen mich Zweifel.» Bild U.Kehrli

Quälende Fragen lassen Frau Kehrli morgens aufwachen: Kümmert man sich um Paul, oder überlässt ihn das Pflegepersonal einfach sich selbst, wenn er sich weigert ins Bett zu gehen? Versteht er ihre Fragen überhaupt? Werden ihm die Zähne geputzt, die Spangen herausgenommen?

16. Juni 2012 – Wird ihm genüge getan?

Zusammengekauert vornübergebeugt sitzt Paul auf der harten Bank im Korridor. Dort ist es düster. Fast die ganze Nacht hat er dort verbracht. Schon mehrere Male. Kein Wunder, wenn ich ihn dann am Nachmittag dösend antreffe, und er nicht sprechen mag. Immer wieder schliesst er die Augen und beugt sich vornüber.

Er strahlt mich an wie ich ihn begrüsse, streckt sich eine Weile, um sich dann wieder vornüber zu beugen. Eigentlich eine schreckliche Lage: Stundenlang so zu sitzen!

Wer kümmert sich um ihn mit der nötigen Geduld und mit Feingefühl, wenn er sich mit Worten nicht mehr äussern kann?

Er erzählt mir seinen Kummer. Immer wieder diese unbeholfenen Versuche, mir etwas zu berichten. Die Worte sind meistens nicht zu verstehen. Dann zeigt er verzweifelt an den dicken Wulst in seiner Leistengegend. Aha, erneut das grosse Problem mit den Slipeinlagen.

Da er nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette kann, nässt er. X-Mal am Tag die Hosen wechseln. Er schämt sich dafür. Mit ein Grund seiner Verzweiflung. Kürzlich traf ich ihn im Zimmer an, hinter der Tür, auf einem Stuhl. Beide Hosenbeine nass. Schämen. Ein Wort, das er korrekt aussprechen kann.

Manchmal sagt er auch: Geh nicht. Bleib. Und ich weiss, es würde nicht besser, wenn ich noch bliebe. Der Abschied macht auch ihm jedes Mal zu schaffen. Jedes Mal wenn er mich sieht, weint er fast. Das erinnert mich an Kinder im Ferienlager. Wenn sie dann ihre Eltern sehen, weinen sie. Da bricht der ganze Schmerz der Sehnsucht auf.

Das Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Er deutet Richtung Pflegende. Missmutig. Kopf schütteln. Unzufrieden. Mir scheint, er versinkt in Resignation. Es wäre noch mehr in ihm, doch er kann es nicht ausdrücken. Er denkt (noch) recht tiefgründig, in Zusammenhängen, kann seine Gedanken nur nicht in verständliche Worte fassen.

Ab und zu gelingt ein vollständiger Satz, oder einige klare Worte. Doch ist es ein Raten, in welchen Zusammenhang nun diese Äusserungen gebracht werden müssen. Wo ist er mit seinen Gedanken? Meistens reagiert er auf Themen, die bereits einige Minuten zurück liegen.

Er trinkt den Kaffee, den Milana hinstellt, geniesst sichtlich die Schokoladen-Crème, gibt mir das Geschirr. Sobald er aufsteht, könnte ich ihn in den Lift locken – die Möglichkeit für ein paar Schritte an der frischen Luft. Das brächte ihm Abwechslung, täte ihm gut.

Doch Milana ist zu langsam, der Lift kommt nicht, Paul ist bereits wieder auf dem Weg. Zurück auf die harte Bank. Eine Weile bleibe ich neben ihm sitzen, er schottet sich ab mit geschlossenen Augen und schlummert vor sich hin. Was kann ich (noch) tun?

Was nützt es, wenn ich noch länger neben ihm sitzen bleibe? Wieder dieses Ohnmachtsgefühl. Nicht helfen können. Wie viel bequemer wäre es, wenn er sich wenigstens auf dem Bett ausstreckte.

Er tut mir so leid. Noch länger bleiben, und ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich verabschiede mich.

Er reagiert nicht. Er ist wieder in Trauer, Resignation, Verzweiflung versunken.

Quälende Fragen lassen mich früh morgens aufwachen: Artgerechte Haltung? Wird Paul Genüge getan? Kümmert man sich um ihn, oder überlässt man ihn einfach sich selbst, wenn er sich weigert ins Bett zu gehen? Versteht er ihre Fragen überhaupt? Werden ihm die Zähne geputzt, die Spangen herausgenommen?

Es ist sicher einfacher, ihn sich selbst zu überlassen, als einige Tricks aus der Trick-Kiste hervorzuholen, was natürlich Zeit braucht. Hat es jetzt wieder genügend Fachpersonal? Wen sonst hat Paul, ausser mich?

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Selbstvorwürfe nagen an mir, weil ich gestern einfach davon gegangen bin. Einerseits versuche ich loszulassen. Doch wenn ich erfahre, dass er die Nacht im Flur auf der harten Bank verbringt, plagen mich Zweifel. Artgerechte Haltung! Das kommt mir immer wieder in den Sinn. Paul kann sich nicht mehr wehren, kann seine Wünsche, Anliegen, Proteste nicht mehr äussern.

Er wird aggressiv. Wen wundert’s? Gibt es noch Pflegende, die sich einfühlen können? Mir scheint in letzter Zeit hat sich viel verändert. Es fehlt an Zuwendung. Es ist kälter geworden … es fehlen die einfühlsamen Frauen … Personalwechsel. Lücken. Das bringt auch Unsicherheiten für die Bewohner. Noch mehr Probleme. Ach, Herr, erbarme dich!

7. Juli 2012 – Mühsamer Nachmittag

Heute treffe ich Paul im Korridor an, ganz verwirrt ist er. Obwohl es draussen recht heiss ist, trägt er ein Flanellhemd, falsch zugeknöpft, darüber die Windjacke. Und selbstverständlich auch die Mütze, die trägt er immer, oft sogar im Bett.

Er begrüsst mich nicht, winkt mir nur zu, ihm zu folgen. Er schleicht sich in die Toilette vor seinem Zimmer, schaut um sich, fühlt sich verfolgt. Dann schliesst er sich ein. Ich warte in seinem Zimmer. Nach einer Weile kommt er herein, schaut sich argwöhnisch um. Er ist sehr aufgeregt.

Das Tagebuch (69)

Ein Moment der zärtlichen Nähe

Mitten aus dem Pfingstgottesdienst hat man Frau Kehrli gerufen, Paul sei nicht mehr ansprechbar. Halb so schlimm, wie sich dann herausstellte. Dafür ist sie … weiterlesen

Wenn ich ihn nur in den Lift locken könnte! Das ist immer ein Kunststück. Ist er mal drin, ist alles gewonnen. Denn unten folgt er mir wie ein Lämmchen, dann freut er sich sichtlich an der frischen Luft zu sein. Vor dem Lift bedroht er noch den Neuen, ein Feriengast, der stets herumläuft. Wahrscheinlich war er auch in seinem Zimmer. 

Paul hebt seinen Spazierstock und bedroht den Gast damit. Ich versuche ihn zu stoppen. Jonas lächelt und geht auf Distanz. Zum Glück besänftigt ihn Frau H., sie mag Paul. Er spürt das und beruhigt sich. Endlich ist der Lift da.

Heute bleibt er aufgeregt, schlägt ein flottes Tempo an. Zum Glück sieht er nur den weissen Suzuki, steuert drauflos, ist dann sichtlich enttäuscht, dass es nicht mein Auto ist.

Er will mit dem Auto weg. Ich habe dazu keine Lust. Wenn er so ausser sich ist, ist das viel zu riskant.

Er drängt zur Nussbaumallee hin, will nichts wissen von der Bank, er will weiter, zum Bahntrassee.

Ich staune. Er klagt zwar über Schmerzen im Knie, hat auch viel zu warm in diesem Winterhemd, doch zielbewusst steuert er auf die Bank am Waldrand. So gut ist Paul schon lange nicht mehr gelaufen. Endlich rasten. Doch bald wird es zu warm. Er schwitzt, lässt sich überreden, die Jacke auszuziehen.

Nun will er weiter. Eine grosse Getriebenheit ist immer noch in ihm. Er möchte durch den Wald. Ich staune erneut. Das erste Mal, dass er diesen Weg wählt. Mühevoll quält er sich vorwärts, klagt über Schmerzen. Dennoch erstaunlich, wie er die Strecke auf diesem holprigen Fussweg bewältigt.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Zurück im Zimmer herrscht wieder Unruhe. Das Bett machen. Lavabo putzen, auf die Toilette gehen, endlich auch etwas trinken. Süssmost, klar. Sein «Bierchen». Dann wird die Bettdecke mit dem Spazierstock ganz straff gezogen, Schuhe ausziehen, Bettdecke zurückschlagen, Hemd ausziehen, flink lege ich ihm ein sommerliches Hemd hin.

Hilf mir, nein warte, lass mich, hilf doch, siehst du nicht … wieder einmal mache ich alles verkehrt. Schuhe wieder anziehen, nein, doch nicht, nun legt er sich aufs Bett. Erleichtert atmet er auf. Er greift nach seiner Mütze, zieht sie an, schläft sogleich ein.

Endlich kann ich gehen. Das Schmerzmittel, das ihm Jonas auf meine Veranlassung hin anbot, wollte er nicht. Er ist sauer auf Jonas. Warum auch immer. Die beiden scheinen sich nicht zu verstehen. Welch grosse Unterschiede es gibt bei den Betreuenden. Jonas mag er nicht. Andere wiederum können mit Paul fast alles erreichen, was nötig ist.

15. August 2012 – Jakobsweg

Sich Wünsche erfüllen, statt immer sagen: Das möchte ich mal. Wenn nicht jetzt, wann? Ich habe meine erste Strecke Jakobsweg im Internet ausgewählt: Von Schwarzenburg nach St. Antoni (9 km, gut zwei Stunden Gehzeit). Etwas Neues anpacken, Therapie für meine wunde Seele.

Mit 75 Jahren bin ich am Anfang einer Reise, die irgendwo beginnt und irgendwo endet. Mein Start war bedenklich. Am Vorabend Durchfall, auch nachts, – muss ich den Plan für heute aufgeben? Ich packe dennoch meinen Rucksack, kann ja mit dem Auto mal nach Schwarzenburg fahren, statt wie geplant mit dem Zug, und dort Unterlagen besorgen, mich orientieren, schnuppern. Schauen, ob die Kräfte reichen.

Die Unterlagen zu sämtlichen Wanderstrecken in der Schweiz erhalte ich im Schloss, gar noch einen Pilgerpass zum Sammeln der Stempel. Fort ist alle Müdigkeit! Heute muss ich meinen ersten Stempel kriegen!

Gegenüber dem Parkplatz beginnt mein Weg! Ich begegne einem Ehepaar mit der St.Jakobs-Muschel auf dem Rucksack. Sie kommen von Rorschach, sind seit dem 1. August unterwegs, französisch sprechend. Sie staunen, dass ein Grosi mit 75 die ersten Schritte der langen Reise vorhat. Es sind die ersten Pilger, die ich antreffe. Ich bin doch nicht allein.

Wir verabschieden uns, vielleicht sieht man sich später wieder. Ich fühle mich jung, munter, kräftig. Es ist schon halb elf Uhr, doch das spielt heute keine Rolle. Der Tag ist lang, mir ist egal, wann ich zu Hause sein werde. Ich bin aufgeregt wie ein Teeny auf der Schulreise.

Diese Wanderung ist so ganz anders. Ich fühle mich geborgen, alles ist durchgeplant, ich bin auch nicht allein unterwegs.

Ich bin auf dem Jakobs-Weg nach Santiago de Compostela. Ein Ziel, das ich wahrscheinlich nie erreichen werde, aber ich bin auf dem Weg, auf dem richtigen Weg. Er ist gut beschildert, man kann ihn auch gut allein gehen und findet doch immer wieder Gesellschaft.

Heitenried geschafft, die Herberge, die ich gerne anschauen möchte, öffnet erst um vier Uhr. Weiter, nach einer Stunde bin ich noch kein bisschen müde. Ich treffe das Ehepaar wieder – sie waren noch in der Kirche, die erspare ich mir, gehe weiter.

Zum Glück führt der Weg an hohen Hecken vorbei, die Hitze wird unerträglich. Dennoch, ich gehe wie beflügelt. Bald ist St. Antoni erreicht, mein erster Stempel – wohl in der katholischen Kirche zu haben – in greifbarer Nähe!Bild 1

Der Bus zurück nach Schwarzenburg fährt um 15.23 Uhr. Denke ich wenigstens und warte bei der Post. Er kommt nicht. Beim Warten dämmert es mir langsam, warum.  Aha, da steht 15. August, Feiertag. Und es gibt keine Verbindung mehr nach Schwarzenburg.

Was tun? Die neun Kilometer zurücklaufen, durch den Graben hinauf? Ein Bus um fünf Uhr fährt bloss nach Heitenried. Was aber dann? Und jetzt ist erst halb vier Uhr. Ich bin ratlos und meine Beine sind nun doch müde.

An der Hauptstrasse kurz nach St. Antoni stelle ich mich an der Hauptstrasse in der prallen Sonne auf, und strecke mutig dem erstbesten Fahrzeug meinen Daumen zu. Der Wagen fährt vorbei, hat mich wohl zu spät gesehen.

Das zweite Auto hält, wer wohl am Lenkrad sitzt? Ein freundlicher Mann, mittelalterlich, lacht mich freundlich an, kein Problem, er fahre mich gerne nach Schwarzenburg. Ich erzähle ihm begeistert – muss wieder mal Französisch sprechen! – von meinem ersten Gehversuch als Pilgerin, dann die Schlappe mit dem Feiertag und kein Bus!

Was für ein Tag! Welch Reichtum an Erlebnissen, Begegnungen, Eindrücken. Was für Bilder sich mir einprägten: von der wunderbaren Natur, den sanften Hügeln und Feldern, den gepflasterten Hohlen Gassen, den steilen Sandsteinfelsen. Dann die Sense mit ihren malerischen Badeplätzchen. Ich plane schon das nächste Teilstück. St. Antoni – Freiburg. 11,5 km, Zeitangabe etwa drei Stunden. (Fortsetzung folgt …)