Ein Moment der zärtlichen Nähe - demenzjournal.com

Das Tagebuch (69)

Ein Moment der zärtlichen Nähe

«Draussen wird Paul munter, interessiert sich für jedes Flugzeug, das Streifen am Himmel hinterlässt, hört auch jeden Motorflieger, der auf dem Flugplatz startet.» Bild Ursula Kehrli

Mitten aus dem Pfingstgottesdienst hat man Frau Kehrli gerufen, Paul sei nicht mehr ansprechbar. Halb so schlimm, wie sich dann herausstellte. Dafür ist sie belohnt worden: Es kommt zu einem dieser seltenen Augenblicke der Zärtlichkeit zwischen den beiden.

16. Mai 2012 – Schon ein Jahr im Heim

Vor einem Jahr wurde Paul mit der Ambulanz aus unserem Zuhause geholt. Seit Juli lebt er im Pflegeheim in Gümligen. 20 km Hinweg, Autobahn. 20 Minuten Fahrt. Zerrissene Gefühle bei fast jedem Abschied. Er hat sich vom Delir gut erholt, braucht aber Pflege, die ich ihm nicht geben kann. Die Nächte sind unruhig. Keine Chance für die herausfordernde, Kräfte raubende Betreuung zu Hause – das musste ich endlich akzeptieren.

Das Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Stirbt der Partner, ist dies wie eine Amputation. Du verlierst einen Teil von dir. Musst du den Partner im Heim zurücklassen, gleicht es ebenfalls einer Amputation, aber einer auf Zeit. Täglich schneidet man daran herum, lässt die Wunde ein paar Stunden ruhen, dann beim nächsten Besuch wird weiter daran geschnippelt. Eine Art Vivisektion am lebenden Subjekt.

Er spricht und ich kann ihn nicht verstehen, doch einzelne Worte sagen alles aus: Es ist nicht schön, dass du gehst. Mich hocken lässt. Ich weine. Bin traurig. Das darf doch nicht wahr sein. Er erleidet unerträglichen Schmerz. Kommt noch hinzu, dass er eingeschlossen ist. Wie lebenslängliche Haft. 

Dann die Mitbewohner, die ihn ärgern, ihm seine Sachen wegnehmen, seine geliebten Puzzle-Bilder zerstören, oder sich auf das von ihm sorgfältig zurecht gemachte Bett setzen.

Es kommt auch vor, dass einer in Pauls Lehnstuhl einschläft. Dann wird er unberechenbar aggressiv. Einer sehr unruhigen Bewohnerin hat er einmal die Tür vor der Nase zugeschlagen, sie wich zurück, fiel beinahe hin. Er hat auch schon seinen Stock erhoben, drohend, wütend.

Er mag es nicht, mit «solchen» Menschen leben zu müssen. Und er kann sich mit den Betreuenden nicht verständigen, auch das löst Unzufriedenheit und Frust aus.

Dann das Nässen. Die einfachen Slipeinlagen nützen nichts, dann muss er auch die Geh-Hose wechseln. Wieder Frust, Scham, Ärger. Verzweiflung auch.

Nun muss er akzeptieren, Windelhosen zu tragen. Demütigend für ihn, weil er oft doch noch begreift, was gerade abläuft.

Beim Abschied dann die Frage: Warum gehe ich ohne ihn, warum verlasse ich ihn? Schlimm war es, als ich Grippe hatte, zwölf Tage lang dieses Verlassenheitsgefühl.

In letzter Zeit schliesst er oft die Augen, kapselt sich ab. Ich versuche ihn abzulenken, z.B. mit Spazieren gehen. Draussen wird er munter, interessiert sich für jedes Flugzeug, das Streifen am Himmel hinterlässt, hört auch jeden Motorflieger, der auf dem Flugplatz startet. Die Baustelle neben dem Heim ist faszinierend, da beobachtet er die Arbeiter, die Maschinen, den Kran.

24. Mai 2012 – Grosse Erleichterung

Nach zwei Tagen Pause ruft mir die Betreuerin zu: Es geht ihm heute super! Sie freut sich mit mir. Paul sitzt auf dem Bänkli im Gang, leicht vornüber gebeugt. Dann sieht er mich und strahlt. Sein liebes Strahlen. Vielversprechend, denke ich. Wieder einmal etwas Kontakt finden, ihm Nähe geben, meine Liebe zeigen.

Kaffee? Dazu Fruchtsalat. Er mag das. Kaum aufgegessen, muss er auf die Toilette. Er kommt total verwirrt und aufgeregt zurück. Er will mir etwas zeigen: Im Abfalleimer sind seine zerrissenen Windelhosen. Ein Disaster, das ihn die nächste halbe Stunde knickt. Er weint sogar. Er hat etwas kaputt gemacht. Und er habe sich sehr anstrengen müssen, das nasse Zeug abzulegen.

Er schämt sich, dass er «solche Sachen» tragen muss. Er ist verzweifelt, wenn er sich die Hose nässt. Umso schlimmer, weil er es oft gleichwohl noch mitbekommt.

Streit in der Familie

Lernvideo

Familienzwist

Dies ist der siebte Film in unserer Reihe kurzer, aber informativer Lernvideos, die sich an Angehörige, Fachpersonal, Pädagoginnen und Auszubildende richten. Inhaltlich greifen wir Themen auf, … weiterlesen

Ich versuche ihn mit Fotos abzulenken. Andys Hochzeit, Paul und ich singen, ich begleite mit dem Akkordeon. Er strahlt, ja, er kennt das. Auch die Terrasse der Dienstwohnung. Er erkennt seine Pflanzung vor dem Wohnblock meiner Eltern. Er besieht sich das Schaukelpferd, das er gemacht hat, die Stabellen, er erkennt seine Arbeiten.

Dann aber schlägt die Stimmung wieder in Trauer um, Augen geschlossen, er weint. Es bringt es also doch nicht, die Fotos anzuschauen. Oder wenigstens nicht heute. Plötzlich: Ich muss auf die Toilette! Draussen höre ich ihn schimpfen. Entsetzen: Er hat sich wieder eingenässt.

Die nächste halbe Stunde sind wir mit Umkleiden beschäftigt. Doch Windelhosen will er um keinen Preis mehr anziehen. Also geht er nackt in die neue Geh-Hose. Die nasse Hose legt er auf das Fensterbrett die Sonne werde sie schon trocknen, deutet er mir an.

Nein, heute lässt sich Paul mit keinen Tricks an die Sonne locken. Nein, er will nicht. Ich kann ihn unmöglich umstimmen.

Also irrt er planlos im Zimmer herum. Was tun? Ich setze mich in den Lehnstuhl und versuche ruhig zu bleiben. Aussichtslos.

Er geht vom Lavabo zum Bett, dann zum Lehnsessel, ab und zu zuckt es in seinem Gesicht. Unruhig, rastlos. Zum Glück ist es bereits vier Uhr. Ich bereite ihn auf den Abschied vor. Er will mit mir gehen. Ich benutze immer dieselben Worte: Paul, du bleibst hier. Ich komme wieder.

Er begleitet mich zum Lift. Als er die anderen Bewohner sieht, setzt er sich dort in den bequemen Lehnsessel. Ich kann mich verabschieden, er schliesst die Augen. Leidender Ausdruck auf dem Gesicht, er schaut mir nicht mehr nach, wie ich in den Lift gehe.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Aufatmen. Heute habe ich eher ein Gefühl der Erleichterung, wie ich weggehe. Es tut gut, wieder einmal hautnah zu erleben, wie schwierig es sein kann, Menschen mit Demenz «auszuhalten». Keine Erklärungen greifen mehr, man redet an eine Mauer. Und Paul spricht verwaschen, man kann ihn kaum verstehen.

Mein Paul, aber doch nicht mein Paul. Heute überwiegt die Erleichterung. Auch Dankbarkeit, dass ausgebildete Pflegende verantwortlich sind für ihn.

Das letzte Mal empfand ich Trauer und Schmerz beim Abschied, heute atme ich auf. Schrecklich eigentlich … Ein Auf und Ab, diese Achterbahn der Gefühle.

Doch kaum eine halbe Stunde zu Hause, ist er wieder da, dieser Schmerz um Paul und die grosse Trauer. Die Erleichterung hat nicht lange angehalten. Auch wieder da: Die Sehnsucht nach meinem Mann, mit dem ich 30 Jahre gemeinsam einen Weg gegangen bin. Das lässt sich nicht so schnell ausradieren. Schon gar nicht so. Ihn so ganz langsam versinken zu sehen ins Irgendwo. Eben doch Vivisektion … .

27. Mai 2012 – Alarm!

Notruf vom Pflegeheim, Paul reagiere nicht mehr. Ich solle sofort kommen, man könne nie wissen sagten sie, die Situation könne sich von einem Moment zum andern ändern, auch zum Schlimmsten … Dann aber kam er wieder zu sich, er erkannte mich.

Doch es ist eine neue Unruhe in ihm, eine Verwirrtheit. Das Personal ist froh, dass ich mich um Paul kümmere. Er hat ein ganz tiefes Weh im Herzen. Er schluchzt, weint sich aus an meiner Schulter, wir sitzen lange auf dem Bettrand. Pauls «Friedu», wie er eine Pflegende nennt, kümmert sich rührend um uns, bringt Mittagessen, auch mir, was noch übrig geblieben ist von der Wohngruppe.

Noch immer fliessen Tränen, er kann nicht sagen, was ihn so bedrückt. Hat er eine Streifung erlitten und bemerkt das neue Durcheinander? Man weiss es nicht. Er mag nicht essen. Ich bringe seinen Teller zurück in die Küche, man stellt ihn beiseite. Vielleicht hat er später Hunger.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Nach einer Weile legt er sich hin. Ruhige Atmung, ob er schläft? Nein, plötzlich höre ich ihn: Mein Buseli ist da. Er strahlt mich herzlich an. Ich gehe ans Bett, frage, ob er mir Platz machen würde. Er rutscht ganz an die Wand, ich schmiege mich an ihn. Nach einer Weile legt er seinen Arm unter meinen Nacken, drückt mich fest an sich. Ich umarme ihn auch und beide geniessen wir diese wohltuende Nähe.

Wie lange habe ich diese Zärtlichkeit vermisst, dieses Kuscheln, Monate, Jahre? Auch ein Zeichen dieser scheusslichen Krankheit.

Der Kranke dreht sich nur noch um sich selbst. Er lässt sich streicheln, umarmen, aber von ihm aus kommt selten etwas zurück.

Wie ich diesen Moment geniesse. Auch wenn der Rücken schmerzt, aber vor allem durchströmt mich das Glücksgefühl, meinen Paul wieder mal neben mir zu haben. Das aneinander schmiegen, das Streicheln über die Wange, sein zufriedenes Strahlen. Mich in seinen Armen geborgen fühlen. Trotz des Kummers, es könnte vielleicht das letzte Mal sein.

Bald wieder die Unruhe. Ich gehe mit ihm in den Essraum, er bekommt Kaffee und ein Stück Sachertorte. Diesmal bringen sie auch mir einen Kaffee. Besorgt auch um mich, weil ich so unerwartet herbeordert wurde. Und das an Pfingsten, mitten aus der Predigt haben sie mich geholt.

Er findet keine Ruhe. Wir gehen zum Lift, er lenkt ein, wir gehen nach draussen. Eine Viertelstunde nur, doch wenigstens etwas frische Luft und Freude an den vielen Spatzen.

Zurück im Zimmer: Das Bett ist nicht gemacht. Er macht sich an die Arbeit. Eine ausgiebige Prozedur. Millimetergenau. Mit Zuhilfenahme seines Stockes. Wo ist der? Endlich, im Badezimmer, auf dem Fenstersims. Wohl seit Freitag, dannzumal ist er geduscht worden.

Ich muss auch mithelfen. Noch ein wenig gerade ziehen, nein, nicht so, schau, hier, ich werde herumkommandiert. Da funkt wieder der Mann B drein, der unangenehme. Endlich gibt er sich zufrieden mit der straffen Decke.

Erneutes Herumirren im Zimmer. Hast du Hunger? Ja, Hunger. Ich hole ihm das Essen, er isst alles auf, bis auf ein Stück Braten. Neues Problem: Was machen wir damit? Ratlosigkeit. Für das Nachtessen aufheben. Nein, das will er nicht. Er steht auf, was tun? Ablenken? Geht auch nicht. Ich nehme es mit. Oh, jeh, total daneben. Neue Aufregung. Also, lieber hier lassen.

Ablenken. Ich finde den Nagelclipper. Volltreffer. Erleichtert nimmt er ihn und beginnt die langen Fingernägel abzuschneiden. Ich hole eine Feile bei den Pflegenden (wo ist wohl seine gelandet, da verschwinden Gegenstände, tauchen vielleicht irgendwo wieder auf, wenn man Glück hat). Nun feilt er, alles Ok, Zufriedenheit auf seinem Gesicht.

Danach wieder zielloses Herumirren im Zimmer. Auf der Suche, wonach? Ich rüste einen Apfel. Er schnetzelt die Viertel, die ich ihm vorbereitet habe, in kleinste Stücklein. Hauptsache, er ist beschäftigt.
Es ist viertel nach vier Uhr. Seit halb elf Uhr bin ich bei ihm. Ich bin müde. Ich mag nicht mehr. Ich sage komm: Nehme seinen Arm, komm mit ins Wohnzimmer. Er kommt, zögerlich.

Im Korridor beim Lift steht der Lehnstuhl, den er so mag. Da kann er sich entspannen, sieht alle bekannten Gesichter, da läuft was. Er setzt sich hin. Aufschnaufen. Ich verabschiede mich mit einem innigen Kuss: Ich komme wieder, Paul, habe Dich fest lieb. Langsam entspannt er sich, ich kann gehen.

Wieder und wieder dieses Loslassen, dieses Ablösen, ihn zurücklassen, und dennoch Aufatmen. Lange werde ich von dem kostbaren Moment der zärtlichen Nähe heute zehren können, noch fühle ich seine Wärme in mir. (Fortsetzung folgt …)