Ein wenig Liebe nur - demenzjournal.com

Das Tagebuch (67)

Ein wenig Liebe nur

Wie gut, dass ich heute wieder erlebt habe, wie herausfordernd Paul sein kann. Wie konnte ich nur diesen Gedanken nachgeben, ihn wieder nach Hause nehmen zu wollen? Heile-Welt-Sehnsucht nach früheren Tagen. Bild U. Kehrli

Immer wieder dieses beklemmende Gefühl: Paul gehört noch nicht an einen solchen Ort. Das ist wie Waldau für ihn. Ein Irrenhaus. Keiner möchte dorthin, freiwillig würde niemand dorthin gehen. Doch ich habe mein Ja dazu gegeben.

5. Februar 2012 – Immer dasselbe

Ich komme mit, sagt Paul, setzt sich die Mütze auf, zieht die Jacke an. Nein, Paul, Du bleibst da, Du brauchst Pflege. Ein Versuch, ihn zu überzeugen. Heute geht es gar nicht. Nach Harmonie, kleinen Gesprächen, freundlichen, zufriedenen Worten, schaut er mich jetzt finster an.

Er versucht es zu formulieren: Aha, Du gehst … und… lässt mich hier… so hocken. Er bezeichnet das dort bleiben müssen als «abschieben». Ich bemerke seinen Ärger, seinen Missmut. Wieder fühle ich mich ohnmächtig, schuldig, unsicher. Ach, wie gern würde ich selbst auf diese Trennung verzichten! Was weiss er von meinem Schmerz? Von der Last, nun alleine sein zu müssen?

Das Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Zum Glück entdeckt er jetzt Brosamen auf dem dunkelroten Boden, nimmt Bürste und Schaufel und reinigt diesen hingebungsvoll. Gute Gelegenheit für mich, zu gehen. Er verabschiedet sich nun ohne weiteren Kommentar freundlich, wendet sich sogleich wieder dem Wischer zu. Er vergisst jeweils schnell, tröstet mich eine Pflegende. Nun kann ich es mal selbst erleben.

Zu Hause gibt’s für mich einen Whisky Soda. Ein Trösterchen. Dann den Fernseher an. Das mildert das Gefühl des Alleinseins. Es kam kein Anruf heute und ich mag auch nicht telefonieren. Muss wieder einmal die Gedanken, meine Gefühle ordnen, zur Ruhe kommen. Dankbar denke ich an meinen Waldspaziergang von heute Vormittag.

Obschon bissig kalt, 10° minus, dazu starke Bise. Die Waldwege gut gespurt, der trockene Schnee knirschte unter den Schuhen. Unter den jungen Buchen erspähte ich zwei Füchse. Ich kenne ihre Verstecke und freue mich jedes Mal, wenn ich sie entdecke. Argwöhnisch beobachteten sie mich.

Wenn nichts mehr geht, dann geh. Das muss ich jetzt öfter umsetzen. Tut tatsächlich gut. Noch beim zu Bett gehen sehe ich Paul vor mir in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht, sein Verloren sein. Er ist mir und den Pflegenden ausgeliefert, in einer geschlossenen Abteilung, einem Gefängnis ähnlich. Oder kann mein Verstand endlich einordnen, dass es Schutz ist, eine für ihn notwendige Geborgenheit? Wann begreift mein Herz das endlich?

In Momenten wie heute, wo er teilweise seine Gedanken klar äussern kann, kommt immer wieder dieses beklemmende Gefühl hoch: Er gehört noch nicht an einen solchen Ort. Das ist wie Waldau für ihn. Ein Irrenhaus. Manche benehmen sich auch wie «Irre». Keiner möchte dorthin, freiwillig würde niemand dorthin gehen. Und ich habe mein Ja dazu gegeben.

Das kommt mir heute wieder schmerzlich hoch. Wie ein Ping Pong Ball, der ins Wasser getaucht wird und wieder hochschnellt.

Ich verweigere mich dem Gedanken, Schuldgefühle zu haben. Es quält mich etwas anderes: Ohnmacht, Schmerz, Hilflosigkeit. Am ehesten trifft Versagen zu.

Einige Bewohner sind viel schlimmer dran als Paul. Das heisst, deren Angehörige haben es länger mit ihren Partnern ausgehalten.

Sie hatten wohl mehr Geduld, haben sich völlig aufgerieben, gaben sich total der Aufgabe des Betreuens hin, kurz, waren fähiger für diese Aufgabe als ich. Paul erweckt manchmal den Eindruck, dass es noch länger gut gegangen wäre zu Hause. Ausser in den Nächten natürlich. Da war er stets unruhig gewesen, ich konnte keine Nacht durchschlafen. Er begann sich anzuziehen, wollte nach Hause gehen.

Immer wieder diese quälenden Gedanken. Brauche wieder mal ein halbes Temesta. Damit kann ich wenigstens schlafen bis fünf. Sonst liege ich ab drei Uhr wach, da lauern trübe, traurige, schmerzliche Gedanken, wollen sich festklammern. Chemie sei Dank, ein Kompromiss, ich brauche Kraft für den neuen Tag.

11. Februar 2012 – Der Tröster

Wenn ich auch manchmal davon träume, Paul wieder zu mir nach Hause zu nehmen, werde ich heute innert zehn Minuten davon geheilt. Wirr und gehässig sammelt er jeden Brosamen einzeln vom Boden auf. Dann habe ich seinen Pullover nicht exakt genug auf dem Bett ausgebreitet, er befiehlt mir dies und jenes, meckert und beschwert sich über alles.

Endlich kann ich ihn dazu bewegen, mit ins Café zu gehen. Da wird er still, geniesst den Süssmost, dem er immer Bier sagt. Später kommen Hans und Anna dazu. Auch Hans ist heute missmutig.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Wir gehen ins Zimmer zurück, nun gibt es noch Tee und den Nussgipfel von Robert. Meistens kann ich damit vom Abschied ablenken. Doch da ist plötzlich seine deutliche Frage: Warum muss ich bleiben? Fühle mich erneut hilflos, bedrückt, ängstlich. Wie kann ich es ihm erklären?

Du brauchst Pflege. – Nein. – Du bist krank, du kannst nicht weg von hier. Traurig senkt er den Kopf. Morgen ist Sonntag, da komme ich wieder. Sein Gesicht hellt sich auf: Da gehen wir doch …, er verstummt, kann es nicht sagen. Ich weiss es. Da kommt prompt der Nachsatz: … in die Predigt?.

Jeden Sonntagmorgen wollte er hingehen. Er sehnte sich danach, genoss die Lieder, die Orgelklänge, die Gemeinschaft. Ich wage es nicht, mehr zu sagen. Ich fühle mich elend. Weisst du, Paul, ich bin auch traurig über die Situation, sage ich.

Beide kämpfen wir mit den Tränen. Dann lenkt er selbst vom Thema ab. Er sieht wieder Brosamen am Boden, steht auf und nimmt Bürste und Schaufel.

Da verabschiede ich mich. Er schaut mir nach, beginnt sein Zimmer zu putzen, ist beschäftigt, abgelenkt.
Auf der Heimfahrt klage ich meine Not dem Herrn. Ich brauche Trost. Zuhause weicht die Traurigkeit. Paul tut mir sehr leid. Aber ich darf seinen Schmerz nicht auch noch zu meinem machen. Da hilft mir mein Tröster, mein Herr. Und heute Abend auch der Fernseher. Tiersendungen.

Wie gut, dass ich heute wieder erlebt habe, wie herausfordernd Paul sein kann. Wie konnte ich nur diesen Gedanken nachgeben, ihn wieder nach Hause nehmen zu wollen? Heile-Welt-Sehnsucht, Sehnsucht nach früheren Tagen. Problem mit dem Alleinsein? Oder auch gewisse Schuldgefühle? Ich war es ja, die den Vertrag unterschrieben hat …

23. Februar 2012 – Ein bisschen Liebe nur

Heute früh ein Anruf von Carlo. Seine Stimme klingt sehr deprimiert, Bauchprobleme, kann nicht essen, ist traurig und einsam. Ach, da würde ihm doch eine Hühnersuppe gut tun!

Liebe ist wie Sonnenschein
Dringt gar tief ins Herz hinein
Hilft dem Kranken keine Kur
Gib ihm ein wenig Liebe nur.

Ich fahre zu ihm, bringe ihm eine Suppe, die ich stets im Tiefkühler vorrätig habe. So, wie eine welke Blume sich nach dem Giessen wieder aufrichtet, kann ein Mensch getröstet werden: mit Zuwendung, Anteil nehmen. Bald sind die trüben Gedanken verscheucht.

Mit Hochgenuss isst er die Suppe, kann wieder lachen, plaudern, ist guter Dinge. Danach spazieren wir durch den sulzigen Schnee. 90-jährig ist Carlo geworden und kein bisschen müde. Aber oft traurig wegen der bedrückenden Einsamkeit.

An einem sonnigen Plätzchen mit Aussicht über das Mittelland danke ich ihm für seine Anteilnahme und seine vielen Gebete während meiner schwersten Zeit mit Paul. Seid euren Lehrern dankbar steht in der Bibel. Carlo hat mich gelehrt für jedes Anliegen auf die Knie zu gehen um dem Herrn alles hinzulegen. Mit kindlichem Vertrauen und Glauben.

Wie doch Freude bereiten uns selbst beschenkt und belebt! Weg von sich selbst zum Nächsten hinschauen, weg vom Selbstmitleid hin zu anderer Menschen Not.

Er ist mir seit vielen Jahren ein Vorbild. Wir kennen uns nun schon über 30 Jahre, ja, er war mir ein guter Lehrer. Dafür musste ich ihm mal ganz speziell danken. Ach, wie schnell kann ein Mensch abberufen werden, dann kann man nichts mehr sagen.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Mir tut das Zusammensein auch gut, wir erzählen munter drauf los, lachen, staunen über die wunderschöne Aussicht, geniessen Sonne und Schnee. Beim Abschied muss er sich zügeln, um mich nicht zu erdrücken. Ich wehre lachend ab, erinnere ihn an sein Versprechen, den «stürmischen Italiener» einzusperren, sonst würde ich nicht mehr zu ihm kommen.

Das hilft. Ich lasse unsere Beziehung nur auf kameradschaftlicher Ebene zu. Er respektiert das, wenn auch nur ungern.

26. Februar 2012 – Dieses Strahlen

Heute hatte ich einen super guten «Abgang» bei Paul. Oh, wie dankbar ich bin, wenn das Abschiednehmen glatt vor sich geht. Als ich kam, wartete er schon beim Lift auf der Bank, döste vor sich hin, doch ich sah, etwas bedrückte ihn. Er konnte mir nicht sagen, was ihn so traurig machte.

Ich fragte eine Pflegerin, die erst die Achseln zuckte aber dann auf meine Bitte hin die andern befragte. Das gab Aufschluss: Paul hatte die Suppe verschüttet, nässte seine Hose, einige Bewohner lachten ihn aus. Das verletzte ihn sehr. Er schämte sich. Er ist sehr dünnhäutig geworden seit dem Hirnschlag vor sechs Jahren.

Erst als ich ihm das noch fehlende Puzzle-Teilchen zeigte, das ich mit der Laubsäge ausgesägt hatte, da taute er auf. Er war begeistert und wollte sofort ins Zimmer, um es ins Puzzle einsetzen. Er strahlte übers ganze Gesicht, meine Mühe mit Sägen und Feilen wurde reichlich belohnt.

Wir hatten eine schöne gemeinsame Zeit heute und beim Abschied schenkte er mir wieder sein ganzes Strahlen, drückte mich fest an sich, gab mir einen innigen Abschiedskuss. So habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Wie gut das tat, Wohltat für meine Seele. Davon kann ich noch lange zehren. Mein Paul war wieder mal hier. (Fortsetzung folgt …)