5. Februar 2012 – Immer dasselbe
Ich komme mit, sagt Paul, setzt sich die Mütze auf, zieht die Jacke an. Nein, Paul, Du bleibst da, Du brauchst Pflege. Ein Versuch, ihn zu überzeugen. Heute geht es gar nicht. Nach Harmonie, kleinen Gesprächen, freundlichen, zufriedenen Worten, schaut er mich jetzt finster an.
Er versucht es zu formulieren: Aha, Du gehst … und… lässt mich hier… so hocken. Er bezeichnet das dort bleiben müssen als «abschieben». Ich bemerke seinen Ärger, seinen Missmut. Wieder fühle ich mich ohnmächtig, schuldig, unsicher. Ach, wie gern würde ich selbst auf diese Trennung verzichten! Was weiss er von meinem Schmerz? Von der Last, nun alleine sein zu müssen?
Das Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Zum Glück entdeckt er jetzt Brosamen auf dem dunkelroten Boden, nimmt Bürste und Schaufel und reinigt diesen hingebungsvoll. Gute Gelegenheit für mich, zu gehen. Er verabschiedet sich nun ohne weiteren Kommentar freundlich, wendet sich sogleich wieder dem Wischer zu. Er vergisst jeweils schnell, tröstet mich eine Pflegende. Nun kann ich es mal selbst erleben.
Zu Hause gibt’s für mich einen Whisky Soda. Ein Trösterchen. Dann den Fernseher an. Das mildert das Gefühl des Alleinseins. Es kam kein Anruf heute und ich mag auch nicht telefonieren. Muss wieder einmal die Gedanken, meine Gefühle ordnen, zur Ruhe kommen. Dankbar denke ich an meinen Waldspaziergang von heute Vormittag.
Obschon bissig kalt, 10° minus, dazu starke Bise. Die Waldwege gut gespurt, der trockene Schnee knirschte unter den Schuhen. Unter den jungen Buchen erspähte ich zwei Füchse. Ich kenne ihre Verstecke und freue mich jedes Mal, wenn ich sie entdecke. Argwöhnisch beobachteten sie mich.
Wenn nichts mehr geht, dann geh. Das muss ich jetzt öfter umsetzen. Tut tatsächlich gut. Noch beim zu Bett gehen sehe ich Paul vor mir in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht, sein Verloren sein. Er ist mir und den Pflegenden ausgeliefert, in einer geschlossenen Abteilung, einem Gefängnis ähnlich. Oder kann mein Verstand endlich einordnen, dass es Schutz ist, eine für ihn notwendige Geborgenheit? Wann begreift mein Herz das endlich?
In Momenten wie heute, wo er teilweise seine Gedanken klar äussern kann, kommt immer wieder dieses beklemmende Gefühl hoch: Er gehört noch nicht an einen solchen Ort. Das ist wie Waldau für ihn. Ein Irrenhaus. Manche benehmen sich auch wie «Irre». Keiner möchte dorthin, freiwillig würde niemand dorthin gehen. Und ich habe mein Ja dazu gegeben.
Das kommt mir heute wieder schmerzlich hoch. Wie ein Ping Pong Ball, der ins Wasser getaucht wird und wieder hochschnellt.
Ich verweigere mich dem Gedanken, Schuldgefühle zu haben. Es quält mich etwas anderes: Ohnmacht, Schmerz, Hilflosigkeit. Am ehesten trifft Versagen zu.
Sie hatten wohl mehr Geduld, haben sich völlig aufgerieben, gaben sich total der Aufgabe des Betreuens hin, kurz, waren fähiger für diese Aufgabe als ich. Paul erweckt manchmal den Eindruck, dass es noch länger gut gegangen wäre zu Hause. Ausser in den Nächten natürlich. Da war er stets unruhig gewesen, ich konnte keine Nacht durchschlafen. Er begann sich anzuziehen, wollte nach Hause gehen.
Immer wieder diese quälenden Gedanken. Brauche wieder mal ein halbes Temesta. Damit kann ich wenigstens schlafen bis fünf. Sonst liege ich ab drei Uhr wach, da lauern trübe, traurige, schmerzliche Gedanken, wollen sich festklammern. Chemie sei Dank, ein Kompromiss, ich brauche Kraft für den neuen Tag.
11. Februar 2012 – Der Tröster
Wenn ich auch manchmal davon träume, Paul wieder zu mir nach Hause zu nehmen, werde ich heute innert zehn Minuten davon geheilt. Wirr und gehässig sammelt er jeden Brosamen einzeln vom Boden auf. Dann habe ich seinen Pullover nicht exakt genug auf dem Bett ausgebreitet, er befiehlt mir dies und jenes, meckert und beschwert sich über alles.
Endlich kann ich ihn dazu bewegen, mit ins Café zu gehen. Da wird er still, geniesst den Süssmost, dem er immer Bier sagt. Später kommen Hans und Anna dazu. Auch Hans ist heute missmutig.