2. Februar 2012 – Dunkle Wolken
Drinnen wie draussen. Auf meinem Gemüt hocken sie, diese dunklen Wolken. Seit ich Paul gestern im Korridor des Heims antraf, vor sich hin dämmernd, ein nasses Taschentuch neben sich … Es stellte sich heraus, dass er den ganzen Vormittag in diese Trauer vertieft war.
Um zwei Uhr, als ich bei ihm eintraf, hatte er noch immer kein Mittagessen zu sich genommen. Das ist so überhaupt nicht Pauls Art! Er, der immer gern und viel gegessen hat. Ein schlechtes Zeichen.
Sie hatten versucht ihn mit belegten Brote zum Essen zu locken, umsonst. Erst als ich ihm gut zusprach und Manuela den Teller im Mikrowellengerät aufwärmte und liebevoll vor ihn hinstellte, begann er zu essen. Aber eher lustlos.
Dann schnell auf die Toilette: Zu spät. Hosen wechseln – er will immer noch keine Pants anziehen. Er wehrt sich dagegen, wird wütend. Geduldig versuche ich ihm zu helfen, Schuhe ausziehen, Hosen, Unterhose, auch das Leibchen, sogar das Hemd, alles ist nass. Neu anziehen. Er lässt sich nur ungern helfen, wird wütend, ungeduldig.
Schliesslich gelingt es mir, ihm gleich noch Mütze und Jacke zu reichen – wir könnten wieder mal für ein paar Schritte nach draussen gehen. Wirklich nur ein paar Schritte. Dann will er wieder hinein: Ich muss arbeiten gehen. Sonntags? Ich kann ihn davon überzeugen, indem ich auf den Bauplatz hinweise. Siehst du, die arbeiten heute auch nicht.
In der Caféteria trinken wir einen Süssmost. Er bestellt ein Bier, meint aber Süssmost, den er selbst aus dem Gestell herausnimmt.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Bald will er wieder gehen. Wohin? Da gerate ich immer unter Strom. Wie reagiert er jetzt? Unsicherheiten. Anna merkt es und erhebt sich. Wir gehen gemeinsam in den Lift. Wieder in seinem Zimmer befällt ihn erneut diese Unruhe. Was tun?
Endlich kann ich ihm den Rasierapparat in Ruhe erklären. Erneut gibt es Unstimmigkeiten, er möchte sich erklären, die Worte fehlen, ich bin ratlos. Ablenken. Most einschenken. Hier ist noch dein Glas. Erneut Unruhe. Trauer in mir, Schmerz, Ungeduld kommt dazu, Ratlosigkeit. Mitleid, grosses Mitleid.
Oh Paul, ich würde dich doch am liebsten mitnehmen, mit nach Hause. An meiner Seite möchte ich dich haben, ich will doch nicht, dass du hier und ich dort sein muss. Es quält, schmerzt mich genau wie dich. Eine scheussliche Situation, es zerreisst mich beinahe.
Aus Erfahrung weiss ich, dass es hier nichts mehr auszurichten gibt. Da helfen weder Worte, noch der Versuch, ihn herunterholen, noch das Trösten mit Zärtlichkeiten, nichts. Er muss da durch. Er wird dann wohl wieder sehr traurig sein und weinen.
Wie eine Schleppe hängt diese Schwere an mir dran, ich versuche sie auf dem Heimweg über die stark befahrene Autobahn loszuwerden.
Welch ein Kontrast zu gestern! Da stand er schon im Korridor, angezogen, als ich eintraf. Gut gelaunt und strahlend. Ich schlug daher vor, Ilse in Ostermundigen zu besuchen, seine langjährige Nachbarin.
Ich staunte, wie sich Paul in ihrer Wohnung sogleich zurechtfand. Er kannte den Weg aufs Klo, er genoss die Gemeinschaft und war recht gesprächig, fand die Worte meistens recht gut, erzählte von früher, von anderen Bekannten. Lachend berichtete er, wie Ilses Schwiegervater ihn und seine Spielkameraden einst aus dem Garten jagte – der war streng, aber korrekt.
Als Paul noch zuhause lebte, besuchte er Ilse und die andern Frauen, die noch im Haus wohnten, regelmässig. Er lebte jeweils auf, war herzlich, erfrischend. Ich staunte, wie er sich wohl fühlte und fast wie früher war, vor der Krankheit. Ausser das Sprechen natürlich.
Ich staunte auch, als er mich auf der Rückfahrt nach Gümligen lotste, da war kein Wort eines anderen Zuhauses. Sein Orientierungssinn ist erstaunlich gut erhalten.
Nach diesem gestrigen Nachmittag kamen wieder diese Zweifel in mein Herz: Tu ich ihm Unrecht, ihn dort zu lassen? Ginge es ihm nicht besser in unserer vertrauten Umgebung zu Hause? Dann kommt mir wieder die Realität zu Hilfe: Wie aufreibend der Umgang mit einem an Demenz erkrankten Menschen sein kann!
Ach, wie oft belaste ich mich mit diesen heile-Welt-Sehnsüchten. Illusionen, die mich nur unglücklich machen, Wünsche, die nie mehr erfüllt werden.
Heute ist wieder ein Montag. Ich werde nicht hingehen. Das ist mein Loslass-Programm. Überlebensstrategie für mich, Abhärtung für Paul. Und eine Chance für die Pflegenden, sich mehr mit ihm zu beschäftigen.
Loslassen lernen. Einerseits muss ich mich lösen, unsere Bindung lockern, andererseits zerreisst es mir fast das Herz, ihn so seinem Schicksal überlassen zu müssen.
7. Januar 2012 – Dankbarkeit
In Syrien reissen Selbstmordattentäter Unbeteiligte in den Tod. In Nigeria werden mehr und mehr Christen von islamistischen Extremisten ermordet. Die arabische Welt wirft ihre Diktatoren über Bord und weiss doch nicht wie weiter. Der Irak versinkt immer noch im Chaos, weil man sich eine Demokratie nicht einfach überziehen kann wie ein neues Hemd.
Nordkorea verliert den kommunistischen Herrscher, sein Sohn wird das Regime weiterhin mit eiserner Faust führen. Skandale fegen Wahlkandidaten aus dem Rennen, Katastrophen, Erdbeben – Haiti liegt immer noch in Trümmern – erschüttern die Welt, Hochwasser, Sturmschäden, und jetzt versinkt die Schweiz im Schnee, Ferienorte sind nicht mehr erreichbar, grösste Lawinengefahr.