Der stete Druck des ewigen Abschieds - demenzjournal.com

Das Tagebuch (64)

Der stete Druck des ewigen Abschieds

Mut vortäuschend lasse ich ihn zurück. Allein. Er sitzt am Tisch und dreht mir den Rücken zu, sagt nichts mehr. Er ist wieder im Land zwischen den Welten. Ich gehe zurück in meine Welt. Heute ist sie sehr dunkel. Bild U. Kehrli

Was ist schmerzlicher, einen Menschen endgültig zu verlieren, oder ihn noch zu sehen, obwohl er eigentlich nicht mehr da ist? Mir graut vor den Festtagen. Das erste Mal allein. Wohin könnte ich gehen? Nachmittags werde ich bei Paul sein, aber was danach?

21. Dezember 2011 – Schweren Herzens

Nach einer Woche krank fahre ich heute wieder zu Paul. Gestern rief ich ihn an und als er sich am Telefon meldete, schlug mein Herz heftig. Diese liebe bekannte Stimme wieder zu hören … – wie eine frisch Verliebte sog ich seine Wortfetzen in mich auf. Auch wenn ich nicht verstehen konnte, was er sagte, der Klang seiner Stimme tat mir wohl.

Wie ich ihn wieder sehe, kommen mir die Tränen. Das Umarmen, seine Hände liebkosen. Ich muss an Evi denken, die ihren Mann nicht mehr hat. Ja, mein Paul, er ist wenigstens noch da, ich sehe, fühle, höre ihn. Aber er ist nicht der wirkliche Paul, der Paul, der er war.

Kaum hat er mich begrüsst, wendet er sich wieder seinen Guetzli zu, die er in Gedanken versunken immer neu anordnet, er wendet sie, dreht sie, beschaut sie – seine Erklärungen verstehe ich nicht. Das ist so traurig, er kann seine Gefühle und Gedanken nicht äussern.

Auch seine Erlebnisse kann er nicht in Worte fassen. Er sucht nach Wörtern, redet bloss Silben, die keinen Sinn ergeben.

Hilflos versuche ich zu erraten, wo er mit seinen Gedanken ist, meistens kann ich mir keinen Reim daraus machen.

Um halb vier Uhr mache ich mich schlapp und traurig auf den Heimweg. Ausgelaugt, noch erschöpft von der Grippe, sinke ich zu Hause ermattet aufs Bett. Tränen strömen über mein Gesicht. Nun bräuchte ich jemanden an meiner Seite, dem ich all meinen Kummer, meinen Schmerz klagen könnte. Nur wer? Ich weiss es nicht. Ich will niemand damit belasten.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Die Vreni, einmal mehr fehlt sie mir. Was nützt es, Anteilnahme zu suchen? Das ist wohl meine Lektion: Den Druck aushalten lernen. Damit bin ich nicht allein, wo immer ich hinschaue, sehe ich Not, Schmerz und dramatische Schicksale.

Mein Sohn Andy ruft an. Das tut so gut. Kann ich ihn mit meiner Trauer belasten? Hat er nicht genug eigene Sorgen und Probleme? Wer versteht diesen Schmerz, diese Qual des Herzens?

Gott, ich schreie einmal mehr zu dir. Erbarme dich Paul. Erbarme dich meiner. Erlöse ihn von seinen Qualen. Erspare ihm das langsame Verbleichen im Land des Vergessens, im Dschungel der Verlorenheit. Tränen, Tränen, Trauer. Schmerz.

Mir graut vor den Festtagen. Das erste Mal allein. Wohin könnte ich gehen? Nachmittags werde ich bei Paul sein, aber was danach?

Gestern Abend war Weihnachtsfeier mit meinen Musikerkollegen. Das tat gut. Dennoch, das nach Hause gehen in die leere Wohnung war fast nicht auszuhalten. Herr, gedenke meiner Gebete. Erbarme dich!

Was ist schmerzlicher, einen Menschen endgültig verlieren, oder ihn noch sehen, obwohl er eigentlich nicht mehr da ist? Dieser stete Druck des ewigen Abschiednehmen. Druck der Ungewissheit – wie geht es ihm, was macht er?

22. Dezember 2011 – Dennoch kommt die Freude 

Kurz nach zehn Uhr mache ich mich auf den Weg. Es wird schon gehen. Hanni, die 88-jährige Schwester von Paul, seit vielen Jahren Witwe, ist seit einigen Jahren im Altersheim.

Mit dabei habe ich ein Adventsarrangement mit einer echten Rose, ja doch, sie ist echt, aber derart behandelt, dass sie nie mehr welken kann. Ewiges Leben sozusagen, der Wunschtraum vieler Milliardäre, die sich einfrieren lassen in der Hoffnung, irgendwann einmal in einem Zeitalter aufzuwachen, in dem man alle Krankheiten heilen kann.

Wir verbringen zusammen eine besinnliche Stunde, Hanni hat mir viel zu erzählen. Ich staune, wie viel Lebensweisheit, Mut, Liebe und Freude in ihr stecken. Nun bin ich selbst die Beschenkte. Auf meine Frage hin, ob sie ein Gebet wünsche, strahlt sie mich freudig an, gern!

Mittags brate ich mir ein gutes Stück Fleisch. Muss doch zu Kräften kommen. Ich tu alles mögliche, um wieder zu erstarken. Diese bleierne Müdigkeit, diese Lustlosigkeit verschlimmert meine depressive Stimmung.

Nachmittags überwinde ich mich erneut und gehe einkaufen. Auch Kleinigkeiten für die Nachbarkinder. Ein kurzes Übergeben des Blumenarrangements, das Körbchen für die Kinder mit den Naschereien, dann wieder zurück aufs Sofa. Bin ausgelaugt, mut- und lustlos, quäle mich herum, aber darf und will mich nicht gehen lassen!

Gott, meine Kraft ist am Ende. Erneut schreie ich zu Dir: Hiiilfeee! Erbarme dich. Und nun kommen die Feiertage. Neue Herausforderungen. Anstrengungen. Gefühle werden durchgeschüttelt, Erinnerungen kommen, derer ich mich nicht erwehren kann. Heimweh nach all meinen Lieben, die nicht mehr hier sind. 

Wie gut, hat mich mein Bruder eingeladen. Ich werde mich aufmachen, mich überwinden. Es wird schon gehen. 

24. Dezember 2011 – Heiligabend spezial

Unvergesslich, dieser Tag. Mittags eingeladen bei Martin und Mona, dann gegen drei Uhr bei Paul. Er ist gut drauf. Die Pflegerin lacht fröhlich. Er ist am Arbeiten und misst alles aus. Da kommt er mir schon lachend entgegen. Frisch rasiert. Gestern musste ich ihm schnellstens einen neuen Rasierapparat besorgen. 

Inzwischen habe ich gelernt zu warten, zuzuhören, ihm viel, viel Zeit zu lassen nach der Begrüssung. Meine Fragen oder Mitteilungen würden ihn zu sehr aus dem Konzept bringen. Im Land, wo Paul nun wohnt, läuft die Uhr anders.

Wo ist dieses Land? Wie ist der Alltag in diesem Land? Immer wieder bemühe ich mich, mit ihm zu gehen, mich einweihen zu lassen, mich dort einzuleben.

Doch, als ob eine dicke Glasscheibe zwischen uns stünde, ist mir der Zugang verwehrt. Er spricht – ich verstehe nicht. Er erklärt –  ich sehe nichts.

Heute nun ist er sehr beschäftigt mit den Guetzli. Er hat die Ränder nachgezeichnet, die einzelnen Teile beschriftet. Ja, das ist ihm gelungen. Wackelig, aber lesbar. Er schiebt sie ein wenig herum, er sinniert, spricht ab und zu darüber, ich lass ihn einfach machen, löse Kreuzworträtsel.

Ich sollte mir eine Strickarbeit bereithalten. Dann kann ich ruhig abwarten, vielleicht kommt mal ein klärendes Wort, gar ein ganzer Satz, damit ich ihm folgen kann.

Dieses ausgeschlossen sein aus seiner Welt, als Partnerin, als seine Vertraute, nur daneben stehen, keinen Anteil daran haben, das verstärkt das Gefühl des Alleinseins.

Ich bin ausgesperrt aus seinem Leben, näher sind manchmal nur die Pflegenden. Dankbar lasse ich mich jeweils einführen in die Welt, in der Paul gerade weilt.

Heute habe ich für Paul einen Wurstsalat vorbereitet, bringe ihm sein Lieblingsbrot, stelle Kerzen auf den Tisch. Das Tischtuch kann ich nicht ausbreiten. Wehe mir, wenn ich sein handwerkliches Guetzli-Gebilde auf die Seite stelle!

Eine Pflegende bringt Pauls Nachtessen, belegte Brote und Kaffee. Eine reichliche Portion. Paul geniesst den Wurstsalat mit Brot, schielt zwischendurch aufmerksam auf seine Guetzli, nippt ab und zu am Wein. Er mundet ihm nicht mehr. Sonderbar, zu Hause trank Paul gern ein, zwei Gläser zum Essen. Belegte Brote hat es reichlich. Spargel, Eier, Lachs. Sie haben auch ein paar für mich hingelegt. 

Ich empfinde grossen Frieden. Wie gut, habe ich mich entschieden das Nachtessen mit ihm zusammen zu geniessen. Ich bin seit langem wieder einmal glücklich, gelassen, erfüllt von Ruhe. Paul ist mir auf gewisse Art nahe. Er ist heute ruhiger als sonst. Meine Anwesenheit tut ihm gut.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Wenn nur der Abschied nicht wäre. Kurz vor sieben Uhr wirkt Paul müde. Schmerzen in den Knien, Verwirrtheit beim Nachfragen nach Ostermundigen, wer dort noch wohne, wo denn sein Bruder Erwin sei, meine Antworten machen ihn traurig. Mutter lebt nicht mehr, daran kaut er immer wieder und verzieht dann sein Gesicht weinerlich. Ich nehme ihn in die Arme.

Aber ich bin ja da, dein Fraueli, dein Buseli. Und ich habe dich sehr, sehr lieb. Gut, haben wir einander. Zur Traurigkeit kommt nun noch die Müdigkeit hinzu. Stockdunkel schaut die Nacht durch die grosse Fensterfront. Unten ein beleuchteter Tannenbaum. Mir graut vor der Autofahrt. Allein über die Autobahn, viel Verkehr, ohne Paul. Auch ich bin sehr traurig.

Endlich reisse ich mich los, es wird nicht einfacher sein in einer halben Stunde. Ich verabschiede mich. Kuss, Umarmung, Mut vortäuschend, lasse ich ihn zurück. Allein. Er sitzt nun am Tisch und dreht mir den Rücken zu. Sagt nichts mehr. Er ist wieder im Land zwischen den Welten. Ich gehe in meine Welt. Heute ist sie sehr dunkel.

Einen kleinen, hellen Schein nehme ich mit. Sein frohes, altbekanntes Strahlen, das er mir heute Nachmittag geschenkt hat. Ich trage es im Herzen wie einen kostbaren Schatz.

31. Dezember 2011 – Kehrtwende

Einsicht: So geht es nicht weiter. Der Alltag zermürbt mich. Ich fühle mich ausgelaugt, leer, wund, voller Schmerz. Die Besuche bei Paul quälen mich. Sein Leid, seine Probleme, nebst meinem Schmerz um die Trennung, das Alleinsein. Eine lähmende, körperlich und seelische Müdigkeit bleibt an mir hängen, wenn ich das Pflegeheim verlasse. Zuhause wird mir diese Leere noch bewusster, da fängt ein neues Ringen an.

So geht es nicht weiter. Wo Hilfe finden? Wie komme ich da raus? Tag für Tag dasselbe. Und die Batterien werden immer leerer. Bedenklich. Ich stehe am Abgrund. Kann man mir jetzt sagen: Mutig vorwärts schauen? Lieber nicht …

Herr, ich gebe es auf, nach Lösungen zu suchen. Einmal mehr kapituliere ich. Hier sitze ich nun, auf meiner kuscheligen Sitzgruppe, die mir ein wenig Geborgenheit vermittelt, Erinnerungen werden wach, ich denke an all die Kämpfe die ich mit Dir hier schon ausgefochten habe, da hinein tropften die Tränen, da war Jubel, ach, wie viele Gebete sind in diesen Polstern verklungen.

Und immer hast Du Dich als mein Helfer, meine Stütze und Kraft erwiesen. Bis hierher hast Du mir immer geholfen. Einmal mehr bin ich leer vor Dir, mein Gott. Ich will auf dich warten, ausharren – dieses altmodische und doch so vielsagende Wort.

Alle meine Nöte sind vor Dir ausgebreitet. Alle meine Sorgen werfe ich vor Dich hin. Herr, ich kann nicht mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Ich schaue auf zu Dir. Ich warte auf Dein Eingreifen. Das Jahr ist vorüber. (Fortsetzung folgt … )