23. November 2011 – Erneuter Druck

Keine Zeit zum Besinnen, auch zum Schreiben nicht, ich finde kaum mehr Ruhe. Weder zu Hause noch im Heim bei Paul.

Seit ein paar Tagen liegt etwas in der Luft beim Betreuungs-Team. Weg ist die harmonische, wohltuende, ruhige Atmosphäre. Spannung herrscht vor, Hektik, obwohl sich alle Mühe geben freundlich zu sein, fehlt die gewohnte Herzlichkeit. Die meisten wirken bedrückt und manchmal fehlt die gewohnt aufmerksame Verbindlichkeit.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Als ob denen meine Fragen oder Mitteilungen gleich zum andern Ohr hinausflössen. Nach dem Prinzip: Geht mich nichts mehr an. Was geht da vor? Auch Anni leidet unter den Veränderungen. Sie wird sich mal informieren.

Zuhause habe ich den zweiten Umzug hinter mir. Ich erfreue mich an der positiven Veränderung. Mehr Platz, bessere Übersicht – ich bin auch am Entrümpeln. Schritt für Schritt. Mutig auch loswerden, was ich nicht mehr brauche.

Andy und Simon kamen am Samstag Möbel schleppen, Teppich rausreissen, das neue Laminat verlegen. Das Bett von Paul demontiert, in der Garage abgestellt. Mein Bett habe ich ins kleine Stübchen verlegt. Früher war dies das Schlafzimmer meiner Grosseltern. Dort wurde mein Vater geboren. Da starb sein Grossmüeti, da erkrankte später sein Vater schwer. Da flossen (auch) viele Tränen.

Manchmal fühle ich mich verbunden mit meinen Vorfahren, wie eingeklinkt in die lange Kette der Ahnen. Wer bin ich schon? Ein kleines Puzzle-Teilchen! Ein winziges Glied in einer langen Kette! Manchmal hilft es, den grossen Bogen anzusehen und nicht nur die eigenen Probleme. Bedenke das Ende, denke daran, dass du sterben musst. Das fällt mir in letzter Zeit oft ein. Es hilft mir, Wichtiges vom Banalen zu trennen.

Unglaublich, wie dünnhäutig ich geworden bin durch den ständigen Schmerz um Paul. Auch durch das tägliche Auto fahren, auch wenn es nur 40 Kilometer sind. Es ermüdet. Und nie weiss ich, in welchem Zustand ich Paul antreffe.

In letzter Zeit hat seine Verwirrtheit sehr zugenommen. Ob es mit der Spannung in der Wohngruppe zusammenhängt? Der Tod im Zimmer nebenan hat auch mich zermürbt. Auch ich durchlitt die letzten Tage als sehr anstrengend und belastend. So vor Augen gestellt zu bekommen, was noch vor Paul liegt. Dieser schleichende Zerfall eines Menschen.

Dieses Slow-Motion-Sterben. Seither schreie ich noch intensiver: Kyrie Eleison, kürze dieses schreckliche Leidenszeit ab. Bitte!

Die erste Nacht im Stübchen, kein Bett mehr neben mir! Das Unabänderliche realistisch vor Augen, hat mich Überwindung gekostet. Spät erst ging ich zu Bett. Zögerlich. Weinend. Auch das muss ich durchstehen, ertragen, erleiden.

24. November 2011 – Mein lieber Paul

Nun bin ich allein in unserer gemeinsamen Wohnung. Zurück vom Besuch bei dir in deinem Zimmer. Wir haben Eile mit Weile gespielt. Du hast wieder mal gelacht, freutest dich am Spielen. Früher haben wir dazu nie Zeit gehabt.

Dann der Abschied – jedes Mal sehr, sehr traurig. Du verstehst nicht, weshalb ich ohne dich nach Hause gehe. Manchmal bist du über mich ärgerlich. Ach, wenn du wüsstest, wie sehr auch ich unter dieser Trennung leide. Mein Herz schmerzt, morgens beim Aufwachen, abends, wenn ich zu Bett gehe.

Du fehlst mir. Ich kann es dir nicht sagen. Du verstehst nicht mehr, was ich dir sage.

Als ob du hinter einer dicken Scheibe stündest – wir sehen uns, aber verstehen nicht, was gesprochen wird.

Heute hast du mit dem Stock nach mir geschlagen. Ich habe dich schnell umarmt, da bist du erwacht, erschrocken. Nie hättest du deine Hand gegen eine Frau erhoben!

Wenn du mir noch winkst vom Fenster aus, kämpfe ich gegen die Tränen. Ich steige ins Auto, dann kann ich den Tränen freien Lauf lassen. Oft schreie ich diese Not hinaus. Ganz laut. Das befreit und schmerzt dennoch.

Nun habe ich die Wohnung verändert. Ich habe die Leere auf deiner Polstergruppe nicht mehr ertragen. Auch den Blick auf dein Bett hielt ich nicht mehr aus. Lag ich im Bett, streckte ich meine Hand wie früher zu dir hinüber, dachte an dich und die Tränen flossen erneut.

Nun muss ich das Leben allein anpacken, mir immer wieder sagen, dass du nie mehr nach Hause zurückkehren wirst. Mein Leben muss weiter gehen, auch ohne dich. Selbst wenn ich bei dir bin, tut alles weh. Deine Augen blicken matt ins Leere, unsicher, traurig, ausdruckslos.

Nur ab und zu strahlst du wie früher. Eben, beim Spielen, da fühlst du dich wieder jung, das ist dir vertraut. Da kannst du gar laut lachen, wenn es dir gelingt, mich «nach Hause» zu versenken.

Ach, Paul, ich habe dich längst verloren. Und doch verliere ich dich täglich mehr.

Als ob bloss noch dein Körper da wäre. Wo bist du? Wie geht es dir? Was geht in dir vor? Wie kann ich dir helfen, wie dich erreichen?

Ich versuche täglich, Liebe, Hoffnung, etwas Licht in deinen Alltag zu bringen. Dazu mache ich mich täglich auf, dich zu besuchen. dich zu umarmen, dir Nähe und Trost zu geben. Ich versuche, dich hinaus ins Freie zu locken, da ist dir wohler, auch wenn das Gehen mühsam für dich ist.

Noch können wir uns kurz auf eine Bank setzen, den Ponys zuschauen, oder die Flugzeuge suchen, die wir über uns hören. Ich bin so müde geworden. Die Traurigkeit hat sich wie eine Schneedecke auf mich gelegt, mühsam versuche ich, wenigstens den Lobpreis Gottes nicht einfrieren zu lassen. Die einzige Medizin, die mich erhält und mir Kraft gibt, durch- und auszuhalten… Paul ich vermisse dich so sehr!

10. Dezember 2011 – Sehr schlimm

Mein lieber Paul, gestern besuchte ich dich nach zwei freien Tagen. Ich hatte keine Kraft mehr. Am Mittwoch kamen dich deine Arbeitskollegen besuchen. Wäre ich dabei gewesen, hätten sie über deinen Kopf hinweg mit mir geredet. So war es gut, dass du mit ihnen allein warst.

Tags darauf besuchte dich Fränzi, deine Schwiegertochter. So durfte ich noch einen Tag frei nehmen. Da erst bemerkte ich, wie müde ich war. Du hast mich vermisst, hast es mich spüren lassen. Es ging förmlich ein Aufatmen durch die Pflegenden, als ich dich ins Freie locken konnte. Draussen kamst du wieder zu dir selbst.

Dein Interesse am Bauplatz, dem Kran, dem Betonieren des Fundaments lenkt dich von deinen Problemen ab. Traurig, dass es mir nicht mehr gelingt zu ergründen, was dich beunruhigt. Du kannst dich nicht erklären, du merkst, dass dir die Worte fehlen und dann wirst du wütend.

Schlimm war deine Aufregung wegen einer Stoffserviette! Du versuchst etwas zu erklären, ich verstehe es nicht, noch mehr Aufregung. Endlich: In sechs Teile sollte ich sie dir zerschneiden! Dann Toilette. Neue Aufregung wegen der Nässe (!) – da konnte ich die Serviette in die Küche retten und auch die vielen Notizzettel entsorgen, die dich verwirrten.

Mit Nussgipfel und einem Glas Süssmost kam die Welt wieder in Ordnung. Die vom Sturmwind schnell über den Himmel fegenden dunklen Wolken faszinierten dich und allmählich nahmst du mich auch wieder richtig wahr.

Eine gute Viertelstunde Harmonie. Ich zog meinen Stuhl an den deinen, umarmte dich und schmiegte meinen Kopf an deine Brust.

Das tut gut. Das beruhigt. Nähe spüren und liebe Worte. Die kommen an, erhellen dein Gesicht.

Abschied ist immer wieder neue Aufregung. Wie kann ich dich ablenken? Und mich doch verabschieden, mit Umarmung, Kuss. Abschleichen finde ich so gemein, obwohl es für dich wohl unbedeutend ist. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr daran. Gläser abwaschen lenkt ab, ich kann gehen.

Wieder einmal kann ich entspannt nach Hause gehen, dankbar, dass andere Menschen deine Pflege übernehmen. Doch bald führt wieder die Traurigkeit Regie über mich, ich versuche mich dagegen zu wehren, mich auf die Fahrt über die Autobahn zu konzentrieren, mich auf meine Wohnung zu freuen.

Seit ich das Wohnzimmer neu möbliert habe, fühle ich mich geborgen. Ein letzter Gruss über die kahlen Felder hinüber zu deinem Fenster, ein Stossgebet um das herzliche Erbarmen Gottes und seiner Gnade, dich von deinen Leiden bald zu erlösen. Ende der Qualen, für dich, für mich …

Wenn da nur nicht diese grosse, tiefe Müdigkeit wäre. Ich muss versuchen, einen zweiten freien Tag pro Woche einzuschalten. (Fortsetzung folgt … )