Ja sagen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (62)

Ja sagen

«Da gibt es kaum Rat aus der Trickkiste. Jeder Mensch ist in seiner Krankheit so ganz anders, was dem einen nützt, schadet dem anderen. So muss ich immer aus dem Bauch heraus entscheiden.» Bild U.Kehrli

Ihr Zuhause ist ihr zunehmend fremd geworden, so ganz allein, mit Paul im Heim. Doch Frau Kehrli weiss sich zu helfen. Kurzerhand stellt sie die Wohnung auf den Kopf, bis sie sich wohler fühlt.

11. Oktober 2011 – Ja sagen

Am Vormittag hänge ich wieder herum. Eines wird mir klar. Mein Hadern, mein Auflehnen gegen Pauls Krankheit, dieses getrennt sein, raubt Kraft. Es ist wie es ist. Endlich muss ich es annehmen, mich damit abfinden. Verstand gegen Gefühle – ich muss da durch. Mich entscheiden, es annehmen. Ja sagen zu unserem Schicksal.

Wehe dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht der Ton zu seinem Töpfer: Was machst du? Und sein Werk: Du hast keine Hände! Wehe dem, der zum Vater sagt: Warum zeugst du? Und zum Weibe: Warum gebierst du? (Jes. 45,9)

Wehe dem, ja, ich suhle mich im Schmerz. Und leide, bin kraftlos, ohne Antrieb, ohne Perspektive. Solange ich in Auflehnung gegen das Schicksal lebe, finde ich weder Frieden noch Freude. Da liegt wahrscheinlich der Wurm drin. Ich gehe wieder auf die Knie. Das stärkt meine Seele…

12. Oktober 2011 – Und es geht doch

Heute war seit Monaten der erste Tag, an dem ich am Morgen frisch erwacht bin und ohne Mühe aufstehen konnte. Sonst war es immer ein sich überwinden müssen, ein sich für all die Arbeiten quälendes aufraffen müssen.

Ich fühle mich in meiner Wohnung nicht mehr zuhause. Abends muss ich schleunigst die Vorhänge ziehen, sobald es dunkel wird. Mit Paul fühlte ich mich sicher. Jetzt fehlt mir seine Geborgenheit. Wieder kommen Gedanken auf, ob ich ins Dachgeschoss ziehen soll.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Denn jedes Mal, wenn ich im Musikzimmer bin, umgibt mich Ruhe, Geborgenheit, Trost. Der einzige Grund, nicht nach oben zu ziehen, ist mein Alter. Da weiss man nicht, wie es mit dem Treppen steigen sein wird. Immerhin mache ich mich ans Loslassen, Aufräumen. Das lenkt ab, befreit.

Voller Elan habe ich im Schlafzimmer die vielen Kartonschachteln auf Schrank und Büchergestell entsorgt. Wie dick der Staub wieder lag! Manchmal frage ich mich, wo dieser immer wieder herkommt. So hoch oben? Und in solchen Staubwolken lebe und schlafe ich? Unglaublich.

Frau B. putzt heute die Fenster. Wie froh ich um ihre Hilfe bin. Noch nie habe ich eine 70-jährige mit soviel Schwung und Tempo arbeiten sehen. Und das ohne Pause, drei Stunden lang.

Meine Puppen für Moldavien: Die 600. ist geschafft. Vor fünf Jahren nahm ich mir vor, aus Dankbarkeit für jedes Jahr, das ich gelebt habe, 70 Kinder zu beschenken. Die Freude am Puppen-Recyceln packte mich –  nun sind es mehr als 7 mal 70 geworden.

Andere Frauen liessen sich von mir anstecken. Die eine strickt gerne, eine andere, pensionierte Damenschneiderin, näht jeder Puppe ein einzigartiges Modell-Kleidchen. Auf diese Weise drehe ich mich nicht nur um mich selbst. Um meinen, unseren Schmerz.

26. Oktober 2011 – Der Tag danach

Gestern bin ich 75 geworden. Wo sind all die Jahre geblieben? Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Es ist genau so, wie mir meine Mutter mit 90 sagte: Die Jahre vergehen im Flug. Sie verwehen wie die Schirmchen des blühenden Löwenzahns. Man kann sie nicht aufhalten. Ein Tag folgt dem andern, jeder hat seine Plage und plötzlich ist man alt.

Dann kann man so vieles nicht mehr tun, die Kräfte fehlen, man wird langsamer, ist müde und sucht eher die Ruhe als die Betriebsamkeit. Morgens wälzt man sich wie zerschlagen aus den Federn, schon nach dem Nachtessen wäre man reif fürs Bett. Und ein Geburtstag kann ganz schön anstrengend sein. Telefonanrufe, Besuche, sie erfreuen – aber sie ermüden auch.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Kurz nach zehn Uhr fuhr ich mit dem Zug zu Paul. Wir legten seinen und meinen Geburtstag zusammen. Er durfte ein Essen auswählen und bis zu drei Personen einladen. Andy konnte kommen, Fränzi war in der Schule.

Ich fand Paul in Tränen aufgelöst, schon fein angezogen sass er bei Hans im Zimmer, liess sich nicht trösten. Auch beim Essen fand ich den Grund seiner Traurigkeit nicht heraus. Er konnte sich sehr schlecht ausdrücken, seine Emotionen gingen zu hoch.

Kaum waren wir zurück im Zimmer, legte er sich hin und schlief sofort ein. Danach ging es ihm besser. Er vertiefte sich in das neue Puzzle-Spiel. Was ging in ihm vor? Er hatte wieder zusammen gepackt, was ihm vor die Augen kam, Kleider, Brötchen vom Frühstück, Fotos, fertige Puzzles.

Dass ich Geburtstag hatte, verstand er nicht, das Essen im anderen Gebäude hat ihn nur verwirrt. Das war alles zu viel. Nur ein strikt geregelter Alltag vermag ihn einigermassen im Gleichgewicht zu halten.

31. Oktober 2011 – Trauern

Fredy ist gestorben. Nach kurzem Aufenthalt im Pflegeheim. Die Reihen der Cousins und Cousinen lichten sich. Wir haben den selben Jahrgang. Ich liebte Fredy sehr, als Kinder spielten wir oft zusammen.

Uns verbinden viele schöne Erinnerungen, Streiche, unerlaubte Streifzüge durch den Wald. Leider haben wir uns in letzter Zeit selten gesehen. Noch mehr trauern. Hier ist es wenigstens ein abschliessendes Trauern.

Bei Paul geht das auf Raten. Scheibchenweise. Mit ihm Trauern wir auch um sein verlorenes Zuhause, an dem er mit so viel Liebe gearbeitet hat, in der Hoffnung, dass wir da lange gemeinsam bleiben könnten.

Nun muss ich das Alleinsein lernen in der mir fremd gewordenen Wohnung.

Mich aufmachen, disziplinierte Struktur in den Alltag bringen, immer wieder Entscheidungen treffen, was heute dran ist. Vieles bleibt liegen. Nähen, Puppen, Ordnung schaffen. Muss endlich das Gespräch suchen wegen der Ergänzungsleistungen, selbst wenn Paul wahrscheinlich noch keinen Anspruch darauf hat. Dennoch, informieren muss ich mich.

Oh Gott, überall habe ich Hilfe nötig. Auch beim Autofahren. Ich habe grosse Lust am schnellen Fahren gefunden. Freude, aufs Pedal zu drücken, ja man könnte sagen: Verliebt ins zügige Fahren. Es ist in meinen Genen, das Erbgut meines Vaters. Bitte, Herr, übernimm Du das Lenkrad und meine Gedanken und wache über meinen Bleifuss!

3. November 2011 – Mein Zuhause

Ich trauere ständig um Paul. Der Gedanke ist immer da: Paul fehlt mir überall. Den Tränen nahe verbringe ich die Tage. Es ist nicht mehr so, dass ich nur noch weine. Doch der Schmerz ist fast immer gegenwärtig.

Ein Teil der Wohnung erinnert mich an Pauls Abwesenheit. Im Musikzimmer dagegen fühle ich mich geborgen, weil das ganz mein Zimmer ist.

Statt nach oben zu ziehen, plane ich nun, meine Möbel nach unten ins Wohnzimmer zu stellen. Andy und Simon boten mir spontan ihre Hilfe an. Noch immer habe ich Hemmungen, die von Paul selbst angefertigten Möbel rauszunehmen. Doch es bleibt mir keine Wahl.

Ich muss mein Leben wieder anpacken, neu gestalten, symbolisch dafür ist die Neugestaltung meiner Wohnung.

Noch sträube ich mich gegen den Gedanken, dass Paul nie mehr heimkommt. Ich habe es verdrängt. Wollte und will es nicht wahrhaben. Scheuklappen schützen vor zu grossem Herzeleid. Aber eben nicht auf Dauer. Ich muss den Tatsachen ins Gesicht sehen.

Einen ersten Schritt habe ich schon gemacht, indem ich die Teppiche in den Estrich versorgte. Ein beklemmendes Gefühl habe ich, ein schlechtes Gewissen Paul gegenüber. Nun freue ich mich aber doch auf die Veränderung. Dann die neuen Vorhänge, später wird das Schlafzimmer umgestellt. Schritt für Schritt gestalte ich mein Zuhause.

5. November 2011 – Neues

Tag des Möbelumstellens, Andy, Fränzi und Simon helfen. Viel Arbeit, viel Schleppen. Und siehe da: Kaum ist mein Teppich ausgerollt, erfüllt mich eine grosse Ruhe, diese Gefühl von Geborgenheit. Dann die Freude, meine Polstergruppe hinzustellen. Gut organisiert und überlegt geht alles flott voran, ich erteile die Befehle, gebe die Anweisungen.

Simon fragt nach weiteren Arbeiten. Wenn ich schon da bin, dann arbeite ich, meint er liebevoll. So wird noch der verdorrte Strauch vor dem Eingang ausgebuddelt, ein weiteres Ärgernis weniger. Schwere Kübel in den Keller gestellt, Vorplatz geputzt.

Wie wir gemütlich beim Mittagessen sitzen, steigt neue Lebensfreude in mir auf. Nun wird es mein Wohnzimmer, ein mutiger, arbeitsreicher Entscheid, aber ein lohnenswerter. So schön, eine Familie zu haben.

Nachmittags gehe ich zu Paul, er steht vor dem Lift. Fertig angezogen mit Jacke und Mütze, wirkt aber sehr verwirrt. Kurz entschlossen führe ich ihn an der Hand in den Lift.

Andere Umgebung, andere Gedanken, meistens helfen ein paar Schritte an der frischen Luft.

Kaum draussen, geht es ihm besser. Er wirkt entspannt. Da sieht er unser Auto. Schnurstracks geht er hin, wartet davor. Er will wegfahren. Wohin? Er kann sich nicht ausdrücken. Getrieben von irgend etwas, nach irgendwohin.

Wir fahren los, er sagt nichts. Doch wie er das Muribad sieht, Proteste: Nein, nicht da. Faktor Ablenkung versagt. Da ich nicht herausfinde, wohin er möchte, lenke ich ihn zu unserer Bank an der Aare. Da kann er Flugzeuge bei Start und Landung beobachten, sieht Enten und Krähen, grüsst vorbeigehende Menschen und staunt über einen Schwimmer in der Aare.

Ich geniesse das und mag mich eng an ihn schmiegen. Nun sollte ich ihm aber mitteilen, dass seine Schwester Ruth gestorben ist. Abwägen … Muss ich es ihm überhaupt sagen? Wieder einmal ein heikler Entscheid.

Beim dritten Anlauf scheint er mir folgen zu können. Ob er es auch erfassen kann? Er zeigt keine Reaktion. Die Erinnerung an seine Schwester, die er immer mal erwähnt, scheint in diesem Moment nicht da zu sein.

Für heute ist es genug. Sollte er später nach ihr fragen, bin ich frei von schlechtem Gewissen, es ihm verheimlicht zu haben. Da ist sie wieder, diese Gratwanderung. 

Was kann, muss, darf ich ihm (noch) mitteilen, und was nicht? War es richtig, wichtig, nötig es ihm überhaupt zu sagen?

Nein, auch er muss seinen Teil des Leides tragen, ertragen. Ich kann ihm nicht alles ersparen und abnehmen. Verheimliche ich es ihm, leide ich darunter.

Dieses stete Aussortieren ermüdet nicht nur, es belastet auch, diese Bevormundung, dieses über seinen Kopf hinweg entscheiden schmerzt unsäglich. Und es gibt keine Regeln. Alles muss immer neu abgewogen, hinterfragt werden.

Da gibt es kaum Rat aus der Trickkiste. Jeder Mensch ist in seiner Krankheit so ganz anders, was dem einen nützt, schadet dem anderen. So muss ich immer aus dem Bauch heraus entscheiden.

Man kann fast nur Fehler machen und dann daraus lernen, riet mir die Leiterin der Selbsthilfegruppe. Und das nächste Mal kann es genau umkehrt sein. Wohl gibt es allgemeine Ratschläge, aber man muss für sich selbst herausfinden, was dienlich ist.

Ertasten: Wo weilt er jetzt mit seinen Gedanken? Was kann er aufnehmen? Hört er überhaupt zu, kann er hören, kann ich ihn erreichen? Dauerndes Bewegen auf Neuland. Einfühlsam, abwartend.