Trübe draussen, trübe drinnen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (57)

Trübe draussen, trübe drinnen

Wie sagte mein Sohn Andy so treffend über meine täglichen Besuche im Heim: «Ich frage mich, ob es ihn so auffüllt, wie es dich leert». Bild U. Kehrli

Nein, es ist nicht Mitleid, was Frau Kehrli für Paul empfindet. Es ist Liebe. Würde sie sonst so sehr leiden? Hat sie nicht alles daran gesetzt, einen guten Pflegeplatz für ihn zu finden? Warum sonst zieht es sie täglich zu ihm hin, jetzt, wo sie Auszeiten nehmen könnte?

20. Juli 2011 – Der sechste Tag

Eigentlich wollte ich mir einen gemütlichen Nachmittag gönnen. Wie Ferien. Einfach nichts planen, nur Ruhen. Doch gegen drei Uhr erfasst mich eine Unruhe, die Sehnsucht nach Paul! So mache ich mich auf den Weg ins Heim.

Nicht umsonst habe ich dieses Drängen verspürt: Paul erwartet mich schon sehnsüchtig vor dem Lift. Dankbar umarme ich ihn, wie schön, von einem lieben Menschen erwartet zu werden. Ich will die uns noch geschenkten Tage, Stunden, Momente geniessen.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Wir schauen Fotoalben an. Paul erinnert sich der Namen seiner Geschwister, kann heute viel besser sprechen, sucht und findet die Worte wieder, wenn auch oft nur nach längerem Nachdenken.

Beim Nachhause gehen lerne ich im Lift eine andere «Witwe» kennen, Anni. Lange stehen wir auf dem Parkplatz und schütten unser Herz aus. Ihr Mann ist schon seit drei Monaten in derselben Wohngruppe wie Paul. Das Anteilnehmen tut gut, tröstet.

Sie besucht ihren Mann jeden Tag. Das nimmt mir die «Hemmung», dass ich täglich dort aufkreuze. Doch was soll ich machen, wenn es mich zu ihm hinzieht? Ist er nicht mein Ehemann? Wir waren doch 28 Jahre zusammen, ich liebe und vermisse ihn. Und er sehnt sich auch nach mir.

Abends noch ein paar Puppen waschen, flicken, ankleiden. Nun sind es bereits 21, insgesamt werden es bald 579 Puppen sein. Aber warum noch zählen? Es begann damit, dass ich ein paar Weihnachtspäckli für Waisenkinder in Moldawien machen wollte. Ich ersteigerte Puppen, suchte in den Brockenstuben, weitere kamen mit der Sammlung von Hilfsgütern hinzu.

Eigentlich ist es viel Arbeit, einzeln betrachtet, doch die Freude am Schenken trieb mich an. Und nun habe ich wieder Mut und Kraft. Ich nehme das «hingeworfene Handtuch» wieder auf. Sorry fürs Hinwerfen. Aber bei Gott darf man total ehrlich sein. Auch dafür danke ich Dir, das wird schon wieder.

21. Juli 2011 – Der siebte Tag

Ja, mein Herz kann wieder hüpfen vor Freude. Trost floss mir mächtig zu. Einerseits die Freude an meiner Puppenarbeit. Anderseits erfreuen mich auch die Besuche bei Paul. Nur das nachhause kommen bleibt ein fast unverdaulicher Brocken.

Überraschung: Chrigel, ein Nachbar, hat mir die beiden Grasflächen gemäht! Ich bekam Tränen in den Augen. Solche kleine Liebesdienste berühren zutiefst, ermutigen und trösten.

Gestern fragte eine Pflegende, ob ich ihn nach den Ferien wieder nach Hause nehmen werde? Ich ertappte mich, wie ich vor Freude aufhorchte, mein Puls ging schneller, oh, welche Sehnsucht nach der «heilen» Welt? Doch war sie wirklich heil? War es nicht vielmehr zuletzt nur noch ein Kampf, ein Krampf, ein sich mühsam durch die Tage hindurch quälen, ein Ringen danach, irgendwie durchzukommen?

Habe ich wirklich vergessen, wie mühsam der Alltag war, wie gross die Herausforderungen? Wie erschöpft und verzweifelt ich oft war?

 Und die Nächte? Nie durchschlafen können? Ob dieser Wunsch, Paul nach Hause zu nehmen, realistisch ist? Die Frage der Pflegenden wurde wahrscheinlich unbedacht gestellt.

Nachmittags fahre ich wieder zu Paul. Es zieht mich zu ihm hin, ob ich will oder nicht. Ich gehe gern. Wie ich mich freue ihn zu sehen! Oh Paul, wie ich mit dir leide. Dieser Schmerz, diese Sehnsucht nach unseren normalen Zeiten, als du im Garten gearbeitet hast, in deiner Bude.

Da kam es nie vor, dass ich Gemüse kaufen musste, da war auch nie ein Gartenzaun defekt. Nun bröckelt der Zaun dahin. Es käme niemand in den Sinn, einmal mit Hammer und Nägel wenigstens die losen Zaunpfähle festzumachen.

Paul sitzt wieder vor dem Lift. Und wie er mich anstrahlt, ja er habe sehnsüchtig auf mich gewartet. Er möchte noch mehr sagen, findet aber die Worte nicht. Er sucht vielleicht nach Erklärungen, warum er hier ist und ich immer weggehe?

Was kann er begreifen, wie verläuft sonst sein Alltag? Wie ergeht es ihm in der Nacht, kann er alles einordnen?

Wenn Worte fehlen! Vieles bleibt unausgesprochen, wenn die Gedanken nicht fliessen können. Eingeschlossen in einem Wirrgarten offener Fragen. Keiner kann uns sagen, wie gross seine Leiden sind. Blosses Erahnen bleibt uns, Mitleid, schmerzhafte Hilflosigkeit und Ohnmacht, Trauer, Wut.

Und immer wieder muss ich weggehen, mich losreissen, ihn verlassen, ohne all seine eingeschlossenen Fragen und Gedanken beantworten zu können. Muss mich aufrappeln um nicht im Meer der Tränen zu ertrinken. Und ich weiss: Ich habe keine andere Wahl.

22. Juli 2011 – Schmerzen

Etwas stimmt heute nicht mit Paul. Er redet wirr durcheinander, ich verstehe ihn nicht, ahne bloss, dass er  Schmerzen hat. Es gelingt mir, ihn hinzulegen, endlich finde ich es heraus: Starke Rückenschmerzen! Sofort reagiert eine Pflegende, ruft den Arzt an, Paul bekommt Schmerzmittel. Wie er so hilflos vor mir liegt, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Zuhause nehme ich meine Schreipuppe, um mir den Schmerz von der Seele zu schreien (schreien lassen). Um nicht im Meer der Trauer zu versinken, hole ich noch ein paar Puppen aus dem Lagerhaus. Waschen, frisch einkleiden, frisieren.

Ablenken von der grossen Not, Vertiefen in die Aufgabe, andern Menschen Freude zu bereiten. Ich denke an die strahlenden Augen der Waisenkinder wenn sie eine meiner Puppen im Arm halten. Nun sind es schon 583 Puppen!

Ein Gespräch mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

23. Juli 2011 – Besserwisser

Telefon mit dem Pflegeheim: Paul geht es besser. Er hatte eine gute Nacht. Er sei gerade beim gemeinsamen Singen. Da ist immer was los. Um elf Uhr Termin beim Coiffeur. Das klappt vorzüglich, vor zwei Wochen hatte ich das mit der Verantwortlichen besprochen, sie hat es nicht vergessen! Das wird Paul gut tun, hebt es doch das Selbstvertrauen, wieder gut frisiert zu sein.

Und bei mir? Mittagessen kochen. Traurigkeit. Einsamkeit. Trübe draussen, trübe drinnen. Nicht mal meine Puppen können heute meine Stimmung aufhellen. Küche – Leere. Pauls Platz bleibt leer.

Telefon mit Schwester von Paul: «Wann nimmst du ihn wieder mit nach Hause?» 

Muss eigentlich immer wieder jemand in meinen offenen Wunden herumstochern? Wie kann sie das bloss fragen?

Immer wieder dieselbe Frage. Möchte sie Paul einmal hüten? Hätte sie diese Zeit durchgestanden, wie ich mit Paul, über all die Jahre hinweg?

Warum nur solche Fragen? Ich reagiere gereizt. Wenn Ärzte sagen unrealistisch, nicht machbar, wenn sie von einer eins-zu-eins Betreuung während 24 Stunden reden … ich hatte ihr das schon mehrfach erklärt – weshalb dann solche unbedachte Fragen? Heute ertrage ich es gar nicht. Mein Schmerz ist gross genug.

Und überhaupt. Ich leide genug unter der Trennung und habe eine Riesenwut auf diese Scheisskrankheit, wie ich sie vulgär nenne, nun muss ich mir auch noch so was anhören! Ja, ja, ich weiss, sie ist auch alt, auch leidend, und ja, auch einsam. Aber solche Fragen brauche ich jetzt nicht.

Weshalb ist mein Schmerz heute wieder so bohrend gegenwärtig? Ich brauche Trost, ich vergebe ihr ja, sie weiss nicht, was sie da fragt. Sie kann meinen Schmerz nicht nachempfinden, sie weiss nicht, was sie sagt. Ok, das soll mich nicht mehr belasten.

Herr mein guter Hirte, bitte, hilf Du mir. Ich mag nicht mehr selbst laufen. Nimm mich bitte auf Deinen Arm. Lege den Hirtenmantel um mich, ich mag grad niemand sehen, niemand hören. Nur Dein Herz möchte ich schlagen hören. Deine Wärme geniessen. Einfach ruhen bei Dir, Herr.

23. Juli 2011 – Der Verleider

Dieser gemeine, hinterhältige, freche, hinterlistige Verleider!  Wie der immer wieder versucht mich anzufallen, wie ein lästiger, bellender Hund. Letzte Nacht habe ich gar von so einem Biest geträumt, das sich an mich hängte. Kleine Füchse im Weinberg nennt die Bibel solche Biester. Die fressen die kostbaren Knospen an den Reben weg.

Was ist eine Rebe ohne Knospe? Wie ein Mensch ohne Hoffnung. Es lohnt sich also, diese Biester zu vertreiben.

Da wäre die nicht weichen wollende Bitterkeit gegen das Pflegeheim in N. wegen der Qualen, die Paul durchmachen musste, die Wut auf das grossmäulige Geschwätz des Heimleiters, von wegen sich der alten Menschen in würdiger Weise annehmen, und dass man das Gespräch suchen soll miteinander. So ein leeres Gequatsche, der hat sich überhaupt nicht mehr gemeldet nach der Kündigung.

Doch heute Morgen habe ich brav diesen Mr. Verleider abgeschüttelt. Ich habe die Wohnung geputzt, Beeren, Krautstiele und Salat geerntet. Ah, und – oh Wunder – mich überwunden, die Rechnung fürs Heim in N. zu bezahlen. Ein Schritt in Richtung gelebte Vergebung. Wie gut, dass mich Margret damals zum Gespräch ins Heim begleitet hat.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Dass es denen ja nicht noch einfällt, einen Tag mehr in Rechnung zu stellen! Wir haben alle Ereignisse bis hin zur verantwortungslosen Pflege genau protokolliert. Es zeigte sich, dass praktisch alles schief lief, was schief laufen konnte.

Die zuständige Verantwortliche für die Pflege (50%-Stelle) hatte ihren Mann im Sterben, die andere, ebenfalls teilzeit angestellt, war in den Ferien. Sagte man uns jedenfalls. Schliesslich liessen wir ab von einer Beschwerde an die Kontrollbehörden. Dazu hatte ich schlichtweg keine Nerven mehr.

Langsam gewöhne ich mich an das allein sein. Aber es ist nicht einfach. Ich leide auch körperlich, ein Schmerz auf der Brust. «Nimm doch Dafalgan», riet mir Mariette. Widerwillig tue ich es ab und zu. Doch das Problem löst es nicht. Auch die abendlichen Schlaftabletten, wenn auch in geringster Dosis, nehme ich ab und zu. Doch was soll‘s? Besser, als um halb vier Uhr in der Früh wach liegen und nur noch gegen den «Verleider» kämpfen!

Bevor ich gehe noch ein Anruf von Laura, eine Schulkollegin von Paul. Doch wie sie davon anfängt wann ich Paul wieder nach Hause nehmen würde, reagiere ich unwirsch. Wieder Haue in die blutende Wunde. Reden die einfach so daher, ohne nachzudenken, was sie sagen, ohne sich über die Schwere der Krankheit ein Bild zu machen!

Sollen die ihn doch mal besuchen gehen und Zeit mit ihm verbringen! Und dabei erfahren, wie es Paul wirklich geht.

Wir gehen heute spazieren, durch die Nussbaumallee. Du willst immer weiter gehen, weiter, nur weg vom Heim. Mit mir. Eine kurze Rast auf einer Bank, dann zurück ins Café, ablenken mit Nussgipfel und Süssmost. Wir schauen gemeinsam Bücher: Berner Markt, Rotes Meer die vielen Fische und Korallen, dann Bauerngärten.

Hinauf? Nein, du möchtest weg. Endlich kann ich dich in den Lift locken. Dann in dein Zimmer, da warten die Himbeeren, die du mit Hochgenuss verzehrst. Mir ist bange vor dem Abschied nehmen. Ich kann den Schmerz kaum mehr aushalten. «Ich komme wieder», und schleiche ab, in den Lift. Paul wird abgelenkt von einer Pflegerin.

Ich kann mich der Tränen nicht erwehren. Zuhause ist der Schmerz kaum mehr auszuhalten. Ich versuche mich abzulenken mit Gemüse waschen, Kartoffeln kochen, Essen am Fernseher, Tiersendungen gucken. Doch alles Ablenken nützt nichts. Abgedroschen. Wirkt nicht mehr.

Erst in letzter Zeit habe ich realisiert, dass über all die Jahre, während derer sich Pauls Persönlichkeit stark verändert hat, unser Zusammenleben immer schwieriger und unsere Liebe zugeschüttet wurde. Nun ist sie wieder da.

Nein, es ist nicht Mitleid. Es ist Liebe. Würde ich sonst so sehr leiden? Hätte ich sonst alles daran gesetzt, einen guten Platz für ihn zu finden? Würde es mich sonst täglich zu ihm hin ziehen, jetzt, wo ich Auszeiten nehmen könnte?

28 Jahre lang an meiner Seite. Und nun getrennt. Und diese Sehnsucht in ihm nach unserem gemeinsamen Zuhause, danach, wieder an meiner Seite zu sein.

Trauer. Hast mich ganz schön im Griff heute Abend. Da sitze ich vor dem Fernseher und höre dir zu. Auch wenn ich mich dagegen wehre.

Es ist acht Uhr. Und ich bin schon so flach. Wie lautet das Lied? «Kein Schwein ruft mich an…». Und ich hätte heute Abend so sehr eine Schulter nötig, an der ich mich ausweinen könnte. Am liebsten die von Paul.

Wie heute Nachmittag, als ich mich auf der Bank so schön an ihn kuschelte. Er schien es auch sehr zu geniessen, obwohl er seinen Arm nicht um mich legte. Es kommt jetzt kaum etwas von ihm zurück. Ausser einem lieben Blick – aber das ist schon sooo schön! Da gab es ja mal gar keine Reaktionen mehr. Ein lieber Blick ist schon so wohltuend, beglückend. Schön auch, dass er meine Nähe geniesst.

Ob er es heute Abend noch weiss? Wie sagte mein Sohn Andy so treffend: «Ich frage mich, ob es ihn so auffüllt, wie es dich leert». Ja, ich fühle mich sehr ausgelaugt und leer heute Abend. Genau, das ist die Frage.

Füllt Paul meine Nähe auf während dieser gemeinsamen Zeit? Oder macht es mich bloss leer, ausgelaugt, leidend vor Schmerz? Ich weiss es nicht. Aber ich kann nicht anders als erneut hinzugehen, um in seiner Nähe zu sein. Wer weiss, wie lange noch? (Fortsetzung folgt …)