Dazu das schwere Herz um das Schicksal von Paul! Ich bin «Witwe» geworden, und doch ist er noch da! Obwohl er nur noch ein Schatten seiner selbst ist, sehne ich mich immer wieder nach ihm, um dann traurig und mit grossem Weh ins leere Zuhause zurückzukehren. Druck auf Druck, Last auf Last. Es ist genug! Ich kann die Tränen kaum mehr stoppen.
Nachmittags kommt Andy. Er giesst mir den Garten, wie froh ich bin! Schön, dass ich einen Sohn habe – für mich immer eine grosse Freude, Hilfe und Ermutigung.
5. Juli 2011 – Freier Tag
Bereits der vierte Tag, an dem ich mehr liege als auf den Beinen zu sein. Dennoch, Beeren ablesen, Wäsche machen und aufhängen am Ständer draussen, Plüschtiere waschen. Ich bin nicht faul, aber muss mich schonen. So müde war ich schon lange nicht mehr.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Bin froh, dass Margret heute Paul besuchen geht. Vormittags gehe ich auf den Friedhof. Ob vielleicht der Hilfsgärtner mein Engel war? Er mäht gerade den Rasen. Er strahlt mich an, stellt den Mäher ab und ich frage ihn, wie es geht.
An Ostern musste er von seinem Vater Abschied nehmen, man habe ihm viel zu spät gesagt, dass sein Vater krank sei, er habe ihn nicht mehr lebend angetroffen, was ihn sehr verletzt habe.
«Hast Du die Gräber meiner Eltern gejätet und so liebevoll hergerichtet?» Ja, es habe noch nie so viel Unkraut gegeben wie dieses Jahr, überall habe er zu tun gehabt.
Doch scheinbar waren diese beiden Gräber die einzigen in diesem Feld, die keiner pflegt. Gott wirkt oft durch einfache Menschen. Danke Herr! Er ist gerührt, wie ich ihm danke und ein Nötli zustecke.
Ein weiterer Grund zur Dankbarkeit: Margret ging zum Nachtessenszeit zu Paul. Er habe versucht ihr was zu erzählen, nach zwei Worten ging es nicht mehr. Dennoch konnte sie ihn aufmuntern und ihm beim Essen helfen. Paul und Margret haben sich immer gut verstanden. Wie dankbar ich bin für diesen freien Tag!
9. Juli 2011 – Delir
Gestern um halb sechs ging ich wieder zu Paul, um ihm das Nachtessen einzugeben. Noch kann er nicht selbst essen. Im Rollstuhl hat er entdeckt, wie man sich mit den Füssen am Boden vorwärts bewegen kann. Er begrüsst mich kaum, ein flüchtiges Strahlen, die Augen blicken sorgenvoll, wirr, rastlos, das Gesicht eingefallen, die Haare ungekämmt.
Er stellt mir eine Frage, ich verstehe ihn nicht, dann rolle ich ihn in sein Zimmer.
Jeder Besuch schmerzt. Ihn zu sehen und den Zugang zu ihm nicht zu finden, tut so weh.
Seine Augen blicken unruhig, fremd, ängstlich, wie ein gehetztes Tier. Dann beginnt er mit einem Taschentuch an der Keksschachtel zu reiben, putzen, polieren, was weiss ich.
Er befeuchtet mit der Zunge das Tuch und reibt wieder. Dann entdeckt er das Bettgestell, reibt, poliert eifrig. Alle meine Fragen prallen an ihm ab. Er nimmt keine Notiz von mir. Nach etwa einer Viertelstunde schliesst er die Augen. Will schlafen, ist müde.
Die Pflegende bringt das Nachtessen. «Ui, jetzt schläft er! Ach, wir mussten ihm ein Temesta zur Beruhigung geben, er war so rastlos», entschuldigt sie sich. «Ich kenne ihn noch zu wenig, wusste nicht recht … ».
Schade, immer nach Freitagen werden die Pflegenden in andere Abteilungen eingeteilt. Wozu das? So viel Zeit verschwenden, um sich in die neu zu pflegenden Patienten einzuarbeiten – für die Patienten mit einem Delir ist das eine Katastrophe! Gerade das, was ihnen nützlich wäre, nämlich Beziehungen und Vertrauen aufzubauen, entzieht man ihnen.
Hyperaktives Delir nennt man Pauls Zustand, habe ich mal im Internet gefunden.
Ich spreche ihn an, versuche ihn wach zu kriegen, er sollte etwas essen, er ist so abgemagert. Schliesslich öffnet er den Mund und nimmt das Abendessen
mit geschlossenen Augen ein. Nach zwei Stunden verabschiede ich mich.
Ein Losreissen, was ist aus ihm geworden! Und ich kann ihm nicht helfen, nicht mal mit meiner Nähe und meiner Anteilnahme. Meine Liebe verpufft im Irgendwo – im Nirgendwo. Nimmt er mich überhaupt noch wahr?
Wie ich diese Chemikalien hasse! Doch dann bin ich wieder froh darüber, besonders wenn ich an die schrecklichen Unruhen denke, die ich zuhause mit ihm erlebt habe. Damals hatte ich Hemmungen, ihm ab und zu ein Temesta zu geben. Noch mehr Tabletten … , hat er nicht schon viel zu viele in seinem Leben geschluckt?