16. Juni 2011 – Hilfe, endlich
Mitten in der Nacht wache ich auf. Mir ist plötzlich klar, dass Paul ohne meine Hilfe in dieser elenden Situation «verenden» wird. Plötzlich sehe ich seine Hände, wie er sie, wie um Hilfe ringend, emporstreckt. Helft mir! Ein stummer Hilfeschrei.
Das Grauen packt mich. Grosse Zweifel steigen in mir hoch. Ich erinnere mich an das Eintrittsgespräch, die Frage, na ja, eines Tages sei es ja so weit. Ob ich schon jemand kenne für die Bestattung? Da hätten sie doch jemand sehr einfühlsames. Ich stimmte zu, für den Fall.
Doch jetzt, in dieser Situation, sehe ich alles anders. So hört man etwa von Druckstellen bei Menschen im Rollstuhl, oder offenen Stellen am Rücken vom vielen Liegen. Das würde alles nie entdeckt werden, mit eigenem Heimarzt, eigener Bestattungsstelle.
Mir graut vor solchen Vorstellungen. Ausgeliefert total, rundum. Wer setzt sich für Paul ein, wenn nicht ich? Ich muss handeln!
Früh morgens rufe ich meine Hausärztin an. Sie hat frei. Doch an meiner Stimme scheint die Praxishilfe – wir kennen uns schon sehr lange – zu erkennen, dass ich am Durchdrehen bin. Dass die Lage sehr ernst ist!
Sogleich ruft mich die Ärztin zurück, erkennt die Notlage, glaubt mir. Und vertraut meinen Beobachtungen. Sie kennt mich, sie weiss, wenn ich so reagiere, muss wirklich gehandelt werden! «Ich werde alles unternehmen ihn dort rauszuholen, noch heute.» Ihre Stimme beruhigt mich. Auf- und durchatmen. Ich muss jetzt durchhalten.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Sie orientiert mich: «Der Heimarzt ist nicht erreichbar, ist am operieren. Der Heimleiter sowie die Pflegedienstleiterin sind auch abwesend. Ich werde einfach handeln müssen, ohne Zustimmung von Seiten des Heimes.»
In Münsingen, wo ihr Mann Chefarzt ist, habe es in fünf Tagen ein freies Bett. Ich winke ab: «Das ist zu spät, das hält er nicht durch, ist nicht mehr zumutbar». Waldau, Münchenbuchsee, eine weitere Möglichkeit. Sie sucht weiter.
Endlich kommt der erlösende Anruf meiner Ärztin: «Freies Bett in der Geriatrie-Abteilung im Zieglerspital, die Ambulanz habe ich aufgeboten, für drei Uhr.»
Eine Orientierung des Heimleiters scheitert erneut, er kann nicht erreicht werden, meldet sich auch nicht. Sie rät mir, noch heute das Zimmer von Paul zu räumen. Andy und Fränzi übernehmen das gerne, sie sind ebenfalls erleichtert, dass wir Paul dort rausholen.
16. Juni 2011 – Im Spital
Wie gut, dass ich Freunde habe. Margret wird mich gerne ins Heim begleiten und dann ins Zieglerspital begleiten. Ich kann jetzt nicht selbst Autofahren, bin so froh um ihre Hilfe.
Schon um zwei Uhr sind wir im Heim, Andy und Fränzi sind bereits am Einpacken, sie tragen schon seinen Sessel heraus, Paul bekommt ohnehin nichts mit. Die Pflegerin wirkt hilflos, verloren, schaut zu, ist freundlich zwar, aber man sieht ihr die Verlegenheit an. Was kann sie schon dafür? Bestimmt hatte das Hilfspersonal versucht sein Bestes zu geben, aber es war eben nicht genug.
Die Ambulanz kommt pünktlich, sie bringen Paul im Rollstuhl hinaus. Beim Lockern der Gurte sind sie entsetzt.
Die Bemerkung eines Sanitäters schockt mich: «Das ist leider nicht der erste Bewohner, den wir in einem solchen Zustand hier herausholen müssen».
Endlich im Spital, Paul wird ins Bett gelegt. Ein Häufchen Elend, in Embryostellung kauernd, in Windeln, wie ein hilfloses Kind. Sie ziehen ihm das Spitalhemd an. Wie schrecklich mager er geworden ist, in drei Wochen bloss! Margret ist auch erschüttert.