Nur noch schreien - demenzjournal.com

Das Tagebuch (52)

Nur noch schreien

Die batteriebetriebene Puppe, einmal aktiviert, hört nicht auf zu schreien, lässt sich kaum Zeit, Luft zu holen. Sie schreit und schreit wie ein verängstigtes Kleinkind, das in seiner Not nach der Mutter schreit. Heute habe ich sie wieder einmal stellvertretend für mich schreien lassen. Gott höre! Mir fehlt die Kraft, selbst zu schreien! Bild U. Kehrli

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion befreit Frau Kehrli ihren Mann aus der menschenunwürdigen Situation im Heim und bringt ihn schwer krank ins Spital. Zum Glück hat sie in ihrer Hausärztin und einem Oberarzt willige Verbündete gefunden, die ihrem Urteil vertrauen.

16. Juni 2011 – Hilfe, endlich

Mitten in der Nacht wache ich auf. Mir ist plötzlich klar, dass Paul ohne meine Hilfe in dieser elenden Situation «verenden» wird. Plötzlich sehe ich seine Hände, wie er sie, wie um Hilfe ringend, emporstreckt. Helft mir! Ein stummer Hilfeschrei.

Das Grauen packt mich. Grosse Zweifel steigen in mir hoch. Ich erinnere mich an das Eintrittsgespräch, die Frage, na ja, eines Tages sei es ja so weit. Ob ich schon jemand kenne für die Bestattung? Da hätten sie doch jemand sehr einfühlsames. Ich stimmte zu, für den Fall.

Doch jetzt, in dieser Situation, sehe ich alles anders. So hört man etwa von Druckstellen bei Menschen im Rollstuhl, oder offenen Stellen am Rücken vom vielen Liegen. Das würde alles nie entdeckt werden, mit eigenem Heimarzt, eigener Bestattungsstelle.

Mir graut vor solchen Vorstellungen. Ausgeliefert total, rundum. Wer setzt sich für Paul ein, wenn nicht ich? Ich muss handeln!

Früh morgens rufe ich meine Hausärztin an. Sie hat frei. Doch an meiner Stimme scheint die Praxishilfe – wir kennen uns schon sehr lange – zu erkennen, dass ich am Durchdrehen bin. Dass die Lage sehr ernst ist!

Sogleich ruft mich die Ärztin zurück, erkennt die Notlage, glaubt mir. Und vertraut meinen Beobachtungen. Sie kennt mich, sie weiss, wenn ich so reagiere, muss wirklich gehandelt werden! «Ich werde alles unternehmen ihn dort rauszuholen, noch heute.» Ihre Stimme beruhigt mich. Auf- und durchatmen. Ich muss jetzt durchhalten.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Sie orientiert mich: «Der Heimarzt ist nicht erreichbar, ist am operieren. Der Heimleiter sowie die Pflegedienstleiterin sind auch abwesend. Ich werde einfach handeln müssen, ohne Zustimmung von Seiten des Heimes.»

In Münsingen, wo ihr Mann Chefarzt ist, habe es in fünf Tagen ein freies Bett. Ich winke ab: «Das ist zu spät, das hält er nicht durch, ist nicht mehr zumutbar». Waldau, Münchenbuchsee, eine weitere Möglichkeit. Sie sucht weiter.

Endlich kommt der erlösende Anruf meiner Ärztin: «Freies Bett in der Geriatrie-Abteilung im Zieglerspital, die Ambulanz habe ich aufgeboten, für drei Uhr.»

Eine Orientierung des Heimleiters scheitert erneut, er kann nicht erreicht werden, meldet sich auch nicht. Sie rät mir, noch heute das Zimmer von Paul zu räumen. Andy und Fränzi übernehmen das gerne, sie sind ebenfalls erleichtert, dass wir Paul dort rausholen.

16. Juni 2011 – Im Spital

Wie gut, dass ich Freunde habe. Margret wird mich gerne ins Heim begleiten und dann ins Zieglerspital begleiten. Ich kann jetzt nicht selbst Autofahren, bin so froh um ihre Hilfe.

Schon um zwei Uhr sind wir im Heim, Andy und Fränzi sind bereits am Einpacken, sie tragen schon seinen Sessel heraus, Paul bekommt ohnehin nichts mit. Die Pflegerin wirkt hilflos, verloren, schaut zu, ist freundlich zwar, aber man sieht ihr die Verlegenheit an. Was kann sie schon dafür? Bestimmt hatte das Hilfspersonal versucht sein Bestes zu geben, aber es war eben nicht genug.

Die Ambulanz kommt pünktlich, sie bringen Paul im Rollstuhl hinaus. Beim Lockern der Gurte sind sie entsetzt. 

Die Bemerkung eines Sanitäters schockt mich: «Das ist leider nicht der erste Bewohner, den wir in einem solchen Zustand hier herausholen müssen».

Ich fahre mit der Ambulanz, Margret folgt uns. Ich versuche nachzufragen: Ob man denn nichts machen könne bei solchen Pflegeplätzen? Ob es da von Amtes wegen keine Kontrolle gebe? Er weicht aus, unbequeme Fragen. Darf ja nicht zu viel preisgeben.

Endlich im Spital, Paul wird ins Bett gelegt. Ein Häufchen Elend, in Embryostellung kauernd, in Windeln, wie ein hilfloses Kind. Sie ziehen ihm das Spitalhemd an. Wie schrecklich mager er geworden ist, in drei Wochen bloss! Margret ist auch erschüttert.

50 Folgen Tagebuch. Lesen Sie hier das Interview mit Ursula Kehrli.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Ich inspiziere Pauls Rücken. «Öffnen sie die Windeln», bitte ich die Pflegerin. Ich muss es wissen! Starke Rötungen zwar, aber wenigstens keine offene Stellen. Dann Fiebermessen, Labor, Röntgen, Untersuchungen.

Ich bin bei ihm, gebe ihm Nähe, Liebe, Ruhe. Er wirkt entspannt. Auf einmal öffnet er – ach, wie lange ist es her – seine Augen, strahlt mich an, wie nur ein kleines Kind strahlen kann, wenn es sein Mami sieht und sagt: «Oh, Buseli, schön du da».

Drei Wochen lang hat Paul nicht mehr gesprochen, seine Augen kaum mehr geöffnet. Wie ein Sonnenaufgang – ein so strahlendes Erlebnis ist dieses Erwachen! «Ihre Hausärztin muss rechtes Vertrauen in Sie haben, diese Spitaleinweisung zu veranlassen, ohne ihren Mann vorher gesehen zu haben». Der Oberarzt lächelt. «Aber sie haben schon richtig gehandelt!»

Dann kommt der Befund: Blasenentzündung und Lungenentzündung, hohes Fieber. Frage, wie behandeln? Antibiotika? Überlegen, Zögern, das Leiden verlängern? Doch angesichts der schmerzhaften Blasenentzündung muss man Antibiotika geben. Und Schmerzmittel, klar.

Immer wieder lasten Entscheide auf mir, über seinen Kopf hinweg! Es ist so hart, über ihn entscheiden zu müssen, ohne mit ihm die Fragen, die ja ihn betreffen, besprechen zu können.

17. Juni 2011 – Sehr krank

Endlich mal wieder ruhig geschlafen. Doch früh drängt es mich ins Spital zu Paul. Will ihm Frühstück geben. Doch er isst nicht. Verweigert auch das Trinken. Zu krank – Lungenentzündung, starke Blasenentzündung! Kein Wunder, dass er im Heim tagelang unruhig war und sehr litt.

Ich bleibe bei ihm, doch auch mittags, abends – er isst nicht, trinkt wenig. Ich bin in grosser Sorge. Ab und zu öffnet er die Augen, wenn ich ihn anspreche. Dann huscht ein Leuchten über sein Gesicht. Er scheint mich wahrzunehmen. Trost für meine verängstigte Seele. Vitamine fürs Durchhalten, Aushalten.

18. Juni 2011 – Nur noch schreien

In der Hand halte ich die kleine Puppe mit Batterie. Sonst operierte ich jeweils die Batterien aus dem Puppenbauch heraus für die Kinder in Moldawien, aber diese habe ich behalten. Die Puppe, einmal aktiviert, kann aus «tiefstem Herzen» schreien, sie hört nicht auf, lässt sich kaum Zeit Luft zu holen.

Sie schreit und schreit wie ein verängstigtes Kleinkind, das in seiner Not nach der Mutter schreit. Heute habe ich sie wieder einmal stellvertretend für mich schreien lassen. Gott höre! Mir fehlt die Kraft, selbst zu schreien!

Wie oft war ich schon auf der Toilette? Eine Art Ausleerung, kein eigentlicher Durchfall. Beim Frühstück schon fühlte ich mich am Ende meiner Kräfte.

Paul möchte doch nach Hause und ich bin nach zwei Stunden schon fix und fertig, nach nur ein paar Stunden neben seinem Bett.

Nachdem ich ihn rasiert habe, versucht habe, ihm Essen einzugeben, ihm Nähe zu geben. Was ist nur aus mir geworden!?

Höre: Ich bin verzweifelt!! Wie kann ich noch Vertrauen haben in die Pflege von Paul? Ausser in diesem Spital, wo keine Gewalt angewendet wird, auch wenn man ihn nachts dennoch anbinden muss, er würde sonst übers Gitter steigen … Armer Paul! Wie soll es nur weitergehen? Was kommt nach dem Spital?

Gott, sieh doch, diese Leiden! Diese Qual! Auch für mich, die das alles ansehen, mitleiden muss. Höre unser Schreien! Ich kann selbst nicht mehr schreien, komm kleine Puppe, schrei für mich: Herr, erbarme dich. Lass nicht zu, dass Pauls Leiden verlängert werden!

Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich kann nicht mehr. Da ruft Carlo an. Und betet für Paul und mich und tröstet mich mit Worten aus der Bibel. Wie weiter?

Wie gerne würde ich Paul den Wunsch erfüllen, sich wieder mal hier bei mir auf sein Sofa legen zu können. Ist es dieses Zuhause, wonach er sich so sehnt, oder sehnt er sich vielmehr nach seinem ersten Zuhause in Ostermundigen, seinem Elternhaus?

Wohl eher, denn auch von hier aus zog es ihn ja immer wieder fort. Gott, höre mein Schreien, erlöse Paul von dieser scheusslichen Krankheit. Hilfeeeeeeee!!!!!!!!!! Seine Not ist auch die meine. Bitte, übernimm Du, wir brauchen Deine Hilfe!

19. Juni 2011 – Ich schaff’s nicht mehr

Nun ist es so weit. Herr, ich mag nicht mehr! Die Last wiegt zu schwer. Ich mag einfach nicht mehr. Ich halte es nicht mehr aus. Was für ein Druck auf mir lastet!

Da liegt Paul nun im Spital, zwei Mal täglich besuche ich ihn, um ihm die Nähe, die Wärme und die Liebe zu geben, die er so dringend braucht. Heute war wohl ein Lichtblick: Er beginnt wieder zu sprechen! Hat die Augen geöffnet, schaut sich um im Zimmer, bei der Körperpflege ist er aktiv, macht mit.

Sie haben ihn zu zweit mobilisiert, ein kurzer «Marsch», bald jedoch war er zu müde. Er sieht entspannt, glücklich aus. Ja, das ist positiv. Selbst wenn seine Sprache verwaschen klingt.

Aber er ist doch wieder ein wenig präsent, es geht ihm besser, er ist nicht mehr so rastlos. Am Abend mussten sie ihn dennoch ans Bett binden, er hat wieder versucht über das Bettgitter zu klettern.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

Jetzt spenden

Positiv auch: Mittags die Einladung von Peter und Margretwie dankbar ich für diese Stunden bei ihnen bin. Wir konnten uns gar nach draussen an die Sonne setzen, um Kaffee und Dessert zu geniessen.

Zuhause schlüpfe ich unter die Bettdecke. Dann, eine halbe Stunde später, ein Telefon von Renate. Sie fühlt auch, dass es noch nicht um Pauls himmlisches Heimgehen geht. Sie hat eher den Eindruck, Gott wolle noch etwas in Gang setzen, gerade durch ihn!

Gegen sechs Uhr gehe ich wieder zu Paul. Es zieht mich mit allen Fasern zu ihm hin. Dann kommt wieder diese Trauer. Wie weiter? Was danach? Wie soll ich mit der Heimleitung umgehen, die nie erreichbar war? Wer hilft mir, diese Hürde zu nehmen, damit ich nicht noch laut Vertrag die restlichen 45 Tage fürs Heim bezahlen muss, etwa 160 Franken täglich?

Da sitze ich heute Abend endlich zuhause, möchte essen. Anruf von Pauls Schwester RuthHanni, die andere Schwester, beschwerte sich, weil ich sie nicht angerufen habe.

Nur Vorwürfe! Oh ihr Menschen! Ich kann einfach nicht mehr. Merkt doch, ich bin am Ende. Wie könnt Ihr Beleidigt sein, nur weil ich überfordert bin?

Dann Carlo. Er ist so lieb, fragt immer wieder nach meinem Befinden. Danach Rosmarie, ich bin zu müde, mag nicht mehr Auskunft geben. Ihr meint es ja so gut. Doch es kostet mich viel Kraft. Es strengt an. Ich möchte mich nur noch unter die Bettdecke verkriechen. Mir ist elend, körperlich, seelisch. Ich mag nicht mal mehr die Puppe schreien lassen.

Eigentlich sollte ich doch dankbar sein. Dankbar dafür, dass Paul «gerettet» wurde aus diesem unwürdigen Dasein. Wenn ich ihn aber anblicke, oder an ihn denke, kommen mir wieder die Tränen. Paul, du mein Mann, was haben die dir angetan! Und ich konnte dir nicht helfen, und nun, was kommt danach?

Wie könnte ich dir helfen nach Hause zu kommen, wenn ich kaum mehr fähig bin, für mich zu sorgen? Wenn ich so ausgelaugt, so elend müde bin! So wund in meiner Seele, so voller Schmerz! Dieser Schmerz in meinem Herzen.

Diese Verzweiflung, unfähig zu sein, den täglichen Aufgaben nachzukommen, unfähig, mich den kommenden Herausforderungen zu stellen.

Nein, heute schreie ich nicht. Ich habe auch keine Tränen mehr. Ich bin einfach am Ende meiner Kräfte.

Das Leid um Paul überschwemmt mich, das vergangene und das kommende, wenn ich ihn nicht nachhause nehmen kann. Es erdrückt mich, ich kann es nicht fassen, ihn erneut in fremde Hände geben zu müssen. Wir gehören doch zusammen. Er sehnt sich nur nach dem einen: Heimwärts! In das Zuhause, das er mit so viel Liebe ausgebaut hat …

Gott, höre mich, ich schaff es nicht mehr. Ich bin am Ende. Heute halte ich dir nur stumm mein Herz hin, das schmerzende, verzweifelte Herz, meine Schwäche, meine Verzweiflung. Ich kann es dir nicht mal mehr «zuwerfen»! (Fortsetzung folgt … )