Da brach die Welle über mir zusammen. Das war zu viel! Ich bin der einzige Mensch, der für ihn verantwortlich ist, der einzige Anwalt, die einzige Stimme, seine einzige Hilfe! Und ich kann scheinbar nur ohnmächtig zuschauen, den Schmerz mit ertragen?
Was soll ich tun? Tatenlos zuschauen? Wer hört mich an? Wieder sind die Verantwortlichen nicht zu erreichen, weder Hausarzt, noch Pflegedienstleitung. Überall nur Achselzucken!
Zum Glück hörte mir die Spitex Frau zu. Auch sie sieht kaum Chancen für eine Veränderung.
Ein Rat: Daten sammeln, alles aufschreiben, überwachen, immer wieder die Besucher auffordern alles zu notieren, damit man zur Stunde X Belege und Fakten vorlegen kann.
Ich kann im Moment nur noch zu Gott schreien. Du siehst meine Ohnmacht, du siehst das Elend von Paul. Du siehst meine Tränen, höre mein Schreien. Ich jammere nicht um mein Geschick, nein, ich schreie wegen seinem elenden Zustand! Ich schreie Gott die Ohren voll, lass dieses unwürdige Leben nicht zu, erlöse ihn, befreie ihn aus diesem Elend. Nimm Dich seiner an! Erweise Deine Barmherzigkeit, Dein Mitleid, Dein Erbarmen!
Nachts nach drei Uhr erwache ich. Ziehe den Morgenmantel an und gehe in die Stube beten. Eher ein Schreien, und wiederum ein Werfen der Last zum Herrn. Bitte wende das Geschick von Paul. Rette ihn aus diesem Elend. Erlöse ihn. Gib mir Weisheit, was tun?
13. Juni 2011 – Greisenhaft
Es fällt mir sehr, sehr schwer mit Pauls Situation im Pflegeheim umzugehen. Er sieht um Jahre gealtert aus, ist stark abgemagert, reagiert weder auf Ansprache noch Berührung. Tagsüber sitzt er im Rollstuhl, angebunden, angeblich wegen Sturzgefahr, in Windeln, und döst bloss noch vor sich hin.
Auch nachts wird er mit einem Gurt gefesselt!
Als Paul vor zweieinhalb Wochen im Heim ankam, konnte er selbst gehen, allein essen und noch einzelne Wörter sprechen.
Diese Hilflosigkeit und Ohnmacht,
zuschauen zu müssen, wie er einfach ruhig gestellt wird, wie er kaum mehr die Augen öffnet! Von einer Hilfspflegerin höre ich, er habe halt viel Kraft – das deutet doch darauf hin, dass er mit Gewalt von Pflegenden überwältigt wird!
Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch innerhalb zweier Wochen die Fähigkeit zum selbst Essen, Gehen und Sprechen verliert und dermassen abmagert! Essen ist ihm auch deshalb nicht möglich, weil er ja meistens schläft. Er wirkt so gealtert, fast greisenhaft.
Im Heim finde ich wieder keine Ansprechpersonen, man weicht mir aus, weder Heimleiter noch Arzt sind erreichbar. Fühle mich so verraten, allein und bin voller Angst um meinen Paul. Was geht hier vor? An wen kann ich mich nun wenden?
14. Juni 2011 – Herzzerreissend
Mir zerreisst es das Herz. Anders kann ich meinen gegenwärtigen Zustand nicht beschreiben, wenn ich an Paul denke. Am Samstagabend – nachdem ich ihn besucht habe, und heute Vormittag wieder, als mich Regine anrief, dann auch Doris – drehte ich förmlich durch, konnte dem Tränenstrom und dem Schluchzen nicht mehr wehren.
So sehr ich mich anstrenge, meinen Alltag in normale Bahnen zu lenken und mich nicht gehen zu lassen, dieses Gefühl überwirft all meine Disziplin im Gedenken an Pauls Geschick. Vor allem werde ich der Zweifel nicht Herr, dass ihm Unrecht geschieht, dass man ihm nicht gerecht wird.
Bei Tieren spricht man von «artgerechter» Haltung. Und was ist hier los? Geht man so mit einem hilflosen Menschen um?
Nun brauche ich wirklich ärztliche Hilfe, bin heute Nachmittag bei der Hausärztin angemeldet. Sie hatte stets ein offenes Ohr für all unsere Anliegen, ich hoffe, dass sie mir weiterhelfen kann.
Dann, kurz vor Mittag, das Telefon von Markus. Er fragte, wie er mir helfen könne. Ja, gern, besuche doch Paul, schau mal, wie du ihn antriffst, ermuntere ich ihn. Frau R. von der Alzheimer Vereinigung wird sich nun ebenfalls der Sache annehmen und Erkundigungen einziehen. Hier bekomme ich Hilfe. Auch die Spitex-Frau hat auf mein SMS reagiert: Rien ne va plus hatte ich ihr getextet.
Und wenn es mich ein Vermögen kostet, ich möchte Paul noch einmal nachhause nehmen. Ihm diese vertraute Umgebung bieten, um zu erfahren, ob er dann wieder zu sich kommt. Ob er herunterfahren kann. Dieser Zweifel will nicht weichen: Ist es bloss dieser Riesendrang in ihm, in sein Zuhause zu kommen, der ihn «durchdrehen» liess, der ihn in dieses Delir gedrängt hat?
Die Mail an den Arzt im Lory Spital, dieser Hilfeschrei, habe ich als Kopie auch noch an Frau R. von der Alzheimervereinigung geschickt. Sie ist auch tief betroffen. Morgen wird sie meine Anfrage an die entsprechende Stelle weiterleiten, verspricht sie. Kurz darauf trifft die Antwort des Arztes ein.
Sehr geehrte Frau Kehrli
Ich kann Sie gut verstehen, Ihnen aber wohl nicht wesentlich weiterhelfen. Fixationsmassnahmen (z.B. angurten/anbinden) werden immer gut überlegt; es wird die Selbstverletzungsgefahr abgewogen gegenüber freiheitsbeschränkenden Massnahmen. Das müssen Sie mit der Heimleitung besprechen; bzgl. der Medikamente dürfen Sie durchaus den behandelnden Hausarzt fragen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr «bieten» kann und vor allem, dass sich der Zustand Ihres Mannes offenbar nicht gebessert hat.
Mit freundlichen Grüssen und den besten Wünschen.
Ist das alles? Was nun
15. Juni 2011 – Ausgeliefert
Ausgeliefert! Paul den Stärkeren, ich der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Renate kommt mit zu Paul, sie holt mich um halb drei ab. Ich kann nicht mehr selbst Auto fahren.
Paul sitzt im Rollstuhl auf der Terrasse, die Augen geschlossen, nimmt kaum wahr, dass ihn jemand anspricht. Doch bilde ich mir ein, wenigstens ein freundliches Zucken sei über sein Gesicht gehuscht, als er mich hörte.
Wir fahren mit ihm in den Park, suchen uns ein ungestörtes, schattiges Plätzchen, wollen mit ihm allein sein. Renate schiebt den Rollstuhl. Paul ist noch magerer geworden. Er verschliesst die Lippen, wie ich ihm den Nussgipfel von Robert in den Mund geben will. Robert hat er verstanden, er lächelt matt. Doch er isst nicht.
Eine Pflegerin beobachtet uns, sagt, er könne nicht mehr allein essen.
Einmal schiebt er auch meine Hände weg. So, als wolle er nichts Vertrautes mehr bei sich haben. Als ob er abgeschlossen habe.
Er öffnet die Augen während des ganzen Besuches kein einziges Mal.
Renate und ich singen ihm zwei Lieder vor, ich habe fast keine Stimme, ein Muss, ein ich will. Dennoch: Da hört er ruhig zu, wirkt entspannt. Dann hält er beide Hände zusammen. Mir scheint, er möchte beten. Wir beten das Vater Unser, er spricht es nicht nach, nickt nur ein wenig.
Paul hat grosse Unruhe in den Beinen. Schliesslich ziehe ich ihm die Socken aus. Ihm ist ja immer zu warm! Ob er wohl Medikamente erhält gegen die diagnostizierten Restless Legs? Diese Frage stellte ich in dem Brief an die Pflegenden.
Da ich kaum mal ein bekanntes Gesicht entdecke, weiss ich nie, ob meine Mitteilungen auch wirklich ankommen. Der Heimarzt war wieder nicht zu erreichen.
Sitzt ein Patient tagelang im Rollstuhl – was bei Paul seit dem 26. Mai der Fall ist – wird normalerweise ein weiches Kissen unterlegt, um Druckstellen zu vermieden. Ich bitte die Pflegerin, ihm ein solches Kissen zu geben. Ob sie diese Bitte weiterleiten wird?
Heute trägt er endlich Shorts. Zum Glück, wenn auch «nur» Turnhosen, aber immerhin. Vergeblich sucht er nach einem Taschentuch, eines aus Stoff.
Paul muss lernen, statt auf die Toilette zu gehen, in die Windeln zu machen! Auch das grosse Geschäft.
Nun versucht er sich auszuhusten. Der Gurt ist zu fest angezogen. Paul nestelt immer wieder daran herum, er engt ihn sichtlich ein, er kann nur oberflächlich husten. Ich lockere ihm den Gurt. Wer wird das nachher machen? Wen kümmert das? Wer bemerkt es überhaupt?
Mir scheint Paul fühlt sich heute sehr heiss an. Mir fällt auch auf, dass er jedes Mal aufstöhnt, wenn wir mit dem Rollstuhl über eine Schwelle fahren. Er hat sichtlich Schmerzen, beim Husten, bei jeder kleinsten Erschütterung. Nachfrage bei der Betreuenden: Nichts Auffälliges, versucht sie mich zu beruhigen, es sei nichts bekannt.
Ich hoffe Paul hält noch durch bis nächste Woche. Absolut desolater Zustand, er isst nichts mehr – er könne nicht mehr selbst essen – , er trinkt auch kein Wasser mehr ab Fläschli. Er wirkt, als habe er abgeschlossen mit dem Leben. Ein gebrochener Mann!
Wir gehen noch am Büro des Heimleiters vorbei. Ein veränderter Blick, wo ist die Herzlichkeit geblieben, die beim Eintrittsgespräch so sprudelte?
Weiss er von der Überforderung der Pflege mit Paul, von den vielen schönen Versprechen, die einfach Blaues vom Himmel waren und bei Paul nie Realität werden konnten?
Er ist schroff, abweisend, will keine Zeit haben für meine Fragen. Seine Augen blicken hart, er fühlt sich wohl angegriffen? Er ist jedenfalls sehr verändert im Vergleich zu unserer ersten Besprechung. Er weiss wohl von meinem Mail und sagt so nebenbei, das gehe die Pflegeleitung an. Das betreffe nicht ihn, ich solle mich an diese Personen wenden.
Ja, wer ist denn die Pflegeleitung? Er nennt zwei Namen, von denen ich nie etwas gehört habe, die ich bis heute auch noch nie zu Gesicht bekommen habe. Mir fehlen die Ansprechpersonen, die mir vorgestellt werden, die ich wenigstens dem Namen nach kenne.